»Warum ist diese Göttin so viel stärker?«, seufzte Desiderius genervt.
»Das ist sie gar nicht«, warf Place ein, »nur das Portal macht sie so stark. Das – und ihre Sklaven. Je mehr sie davon hat, je mehr Lebensenergie nimmt sie in sich auf.«
»Und genau das müssen wir mit Kacey tun«, erklärte Bellzazar, »wir lassen alle unsere Magie in ihn fließen, um seine groß genug werden zu lassen, damit er das Portal bannen kann.« Er wandte das Gesicht zu Desiderius und verzog bedauernd den Mund. »Wir werden mit deinen Kindern trainieren müssen, Bruder, so viel wir können.«
Desiderius schüttelte noch immer den Kopf.
»Habe jetzt den Mut, sie einzusetzen«, sprach Bellzazar auf ihn ein, »und sehe zu, wie sie daran wachsen. Denn auch sie sind eine Waffe, du weißt das, Derius! Du spürst es!«
Und an seinem unbehaglichen Blick sah man, dass es wahr war.
»Lass sie uns einsetzen, Bruder, oder gemeinsam mit ihnen untergehen.«
Desiderius atmete schwer aus und sah sich nach Wexmell um, er streckte die Hand aus und Wexmell verschränkte seine Finger mit seinen. Sie gaben sich Kraft.
»Wir müssen erst darüber nachdenken«, sagte Desiderius dann.
Wir. Cohen hörte ganz deutlich dieses Wir, das sie zu einer Einheit machte, die alle anderen ausschloss. Da war es, dieses Wir, das ihn immer verletzt hatte. In diesem Moment lehnte er sich wieder an Bellzazar, der den Arm um ihn schlang.
Dann war es gut. Es war einfach … gut.
»Lass dir nicht zu viel Zeit«, warnte Bellzazar Desiderius, »die Armee, die uns vernichten soll, steht schon bereit.«
Kapitel 9
Unwohl beäugte er den Raum, in den sie gebracht worden waren. Alles in dieser Stadt schien weiß zu sein, von innen und von außen, überall glänzte weißer Marmor. Und alles schien auf massiven Säulen zu thronen. Die Villa selbst lag am höchsten Punkt der Stadt und ragte über allen anderen Gebäuden, umringt von grünen Gärten und Mauern.
Kacey wusste noch nicht, ob es ihm hier gefiel. Er war beeindruckt von der Schönheit der Gebäude, ihren makellosen Fassaden, und dem funkelnden Gold, das alles verzierte, aber ebenso war er eingeschüchtert von der Größe und der Helligkeit der Stadt. Von dem beengten Leben hier, den vielen Menschen, den bewaffneten Wachen.
Es war ihm wieder, als wäre er eingesperrt, obwohl ihm dieses Mal keine Fesseln angelegt wurden. Einzig und allein Ragons und Fens Anwesenheit beruhigte ihn, und er hoffte, dass sie zu ihm stießen, sobald ihre Unterredung mit den Herrschern des Westens beendet war.
Seufzend wandte er sich vom Fenster ab, das keine Scheibe bot, und kehrte dem langsam in den Abend übergehenden Tag draußen den Rücken zu. Kerzen waren bereits in seinem Gästegemach angezündet und schimmerten golden auf dem glänzenden Boden. Etwas steif setzte er sich auf die Kante einer gepolsterten Liege und ließ den Blick über den unpersönlich eingerichteten Raum schweifen. Er hatte ein Bett, eine Gruppe Sitzmöbel, Waschschale, Spiegel, Tisch und Kommode zur Verfügung, ein paar dekorative Vasen und Kelche sowie Gemälde und Jagdtrophäen hingen an den Wänden, Seide schimmerte überall in Blutrot oder Gold.
Sein Aufpasser fläzte sich gelangweilt im Bett und durchbohrte ihn mit Blicken.
Kacey wich geflissentlich seinen allzu neugierigen Augen aus.
»Ihr seid einsam«, sagte dieser dann plötzlich. Es war keine Frage, es war eine trockene Feststellung.
Stirnrunzelnd sah Kacey ihn an. »Wie kommt Ihr darauf?«
Der andere Junge grinste. Ein freches, breites Grinsen, das so unverschämt war, dass man nicht wusste, ob man sich darüber ärgern oder amüsieren sollte. Er war schön, beneidenswert schön. Nicht auf eine Art, die Kacey begehrte, aber trotzdem schön. Makellose Haut, hell wie Milch und geschliffen wie eine frisch aus dem Felsen gehauene Statue. Schwarzes Haar wie Seide und zwei große wässrige Augen, funkelnd wie azurblaue Edelsteine. Das Gesicht so fein und sanft wie das eines Mädchens, doch die Brust flach wie die eines Knaben. Aber eine Verruchtheit im Blick, über die man den Kopf schütteln musste.
»Ich kann es fühlen«, entgegnete der Frechdachs, »die Einsamkeit umhüllt euch wie dichter Nebel. Ich kann förmlich schmecken, wie sehr Ihr Euch nach einem Ende davon sehnt.«
Kacey wollte trotzig den Blick abwenden, doch dann seufzte er stattdessen. »Tun wir das nicht alle irgendwie?«, flüsterte er dann matt und starrte zur Seite. »Endlich bin ich frei und will das auch spüren.«
Das breite Grinsen verging seinem Aufpasser, er wurde ernst. »Ihr seid ihm zu jung.«
Verwundert sah Kacey ihn wieder an. »Wie bitte?« Ihm gefiel nicht, wohin das Gespräch führte.
»Doragon«, erklärte er Kacey entschuldigend, »er hält Euch für zu jung, sieht nur ein Kind in Euch, das er beschützen muss und beschützen will. Auch vor sich selbst. Deshalb hat er Euch nicht zurückgeküsst.«
Kacey zuckte zusammen. »Wo…woher wisst Ihr …?« Er brach ab und schluckte schwer mit bleichem Gesicht.
Der andere Junge legte mit einem nachsichtigen Lächeln den Kopf schief. »Ich sehe mehr, als es Euer sterblicher Verstand begreifen könnte, ohne anwesend sein zu müssen. Ich sehe, was war und was ist – und manchmal«, er senkte die Stimme unheilvoll, »auch was mal sein wird.«
Kacey blinzelte überrascht. »Ihr … Ihr hab die Gabe des Sehens!«
Sein Aufpasser nickte. »Wie beinahe jeder Gott.«
Fröstelnd zog Kacey die Füße auf die Liege und umschlang die Knie mit den Armen.
Mit verengten Augen durchbohrte ihn der andere Junge vom Bett aus und rutschte dann aufgeregt an die Kante. »Soll ich Euch etwas vorhersagen?«
Kacey schüttelte stumm den Kopf. »Ich bin nicht sicher, ob ich mein Schicksal kennen will.«
»Schade«, enttäuscht seufzte sein Aufpasser, »dabei wäre es etwas wirklich Gutes gewesen. Etwas, womit ihr garantiert nicht rechnet.«
Neugierig wanderten Kaceys Augen über das blutjunge Gesicht, das ihm herausfordernd entgegenblickte und wieder breit grinste. Aber er war sich wirklich nicht sicher, ob er etwas über seine Zukunft hören wollte, die Aussicht darauf, sie zu kennen, ängstigte ihn.
»Ich kann es Euch in Rätseln sagen«, schlug der andere vor und tippte sich an das spitze Kinn. Ohne auf eine Antwort zu warten, sprudelten die Worte aus ihm heraus, sobald er sie sich in seinem Kopf zurechtgelegt hatte. »Den ersten Kuss wollte Euch keiner erwidern, den zweiten wollt Ihr nicht geben. Es ist ein Spiel zunächst, für Euch nur eine Blödelei, doch dem anderen ist es ernst, er legt sein Herz auf seine Lippen, doch ihr werdet es brechen – und es gleichzeitig zähmen.«
Kacey war wie erstarrt, während die Worte auf ihn wirkten und sein Herz jede einzelne Silbe zerteilte, umdrehte und erforschte, um sich ihrer Bedeutung gewiss zu sein.
»Ihr kennt denjenigen bereits«, grinste der andere Junge spitzbübisch, »aber ihr beide habt noch keine Ahnung, dass Eure Leben verknüpft sind.«
Nun überschlugen sich Kaceys Gedanken. So viele Personen kannte er schließlich nicht, es musste jemand sein, den er bereits getroffen hatte. Jemand, der jetzt im Audienzsaal war…?
Er schüttelte den Kopf und wollte die Grübeleien verscheuchen. Was kümmerte ihn ein Kuss in der Zukunft, wenn er gerade fürchtete, dass er keine mehr hatte. Zumindest keine allzu lange.
Wo sollte er hin, wenn sein Vater ihn nicht wollte? Und er machte sich keine zu großen Hoffnungen, sein Vater – der Kaiser – hatte nicht gerade großes Interesse an ihm gezeigt. Ganz im Gegenteil, Kaceys Anwesenheit war ihm sichtlich unangenehm