Kapitel 6
Ein lautes Knarren der Scharniere ertönte, als die Wachen sie schwungvoll für ihn öffneten. Sein Herz wusste bereits, wer ihn dahinter im hellen Saal erwartete. Es wusste es ganz genau und vollführte wilde Überschläge, als die eisblauen Augen hinter dem langen Tisch überrascht aufsahen und dann vor Freude zu glänzen begannen.
»Derius!«
Desiderius seufzte. »Wex!«
Sie liefen sich neben dem langen Kartentisch des Kaisers in die Arme. Desiderius wurden die Knie ganz weich, als er seinen Gefährten an sich drückte und dessen lebendiger Leib sich an ihn schmiegte. Beruhigend strich er über Wexmells goldene Locken und vergrub das Gesicht an dessen Halsbeuge, um genüsslich den süßen Duft seines Prinzen einzuatmen.
»Ich hatte solche Angst um dich«, flüsterte Wexmell ihm zu. »Um uns alle.«
»Ich weiß«, Desiderius hauchte einen Kuss auf Wexmells Scheitel und spürte ihre Herzen erst im Einklang und dann ruhiger schlagen. »Ich auch. Aber ich komme immer wieder zurück, das weißt du doch.« Er senkte den Mund an Wexmells Ohr und schwor leise: »Ich komme immer zurück zu dir.«
Wexmell legte ihm die Hände auf die Brustmuskeln und lehnte sich zurück, um mit schiefgelegtem Kopf zu ihm aufzusehen. Die Sorge der letzten Stunden zeichneten sich noch deutlich in seiner Miene ab, die dunkelvioletten Augenringe und gerötete Lider sprachen eine deutliche Sprache und machten Desiderius das Herz schwer.
»Wir wollten uns nicht mehr trennen«, tadelte Wexmell ihn mit einem Schmunzeln. Es sollte ein Scherz werden.
Desiderius schmunzelte schief zurück und beugte sich zu Wexmell hinab. »Vergebung, mein Prinz, ich werde dich bei nächster Gelegenheit natürlich mit in den Tod reißen.« Er legte Wex eine Hand an die Wange und die andere in den Nacken, um ihn zu küssen. Immer und immer wieder, bis ihre Münder feucht und geschwollen waren. Aber es war nicht genug, könnte nie genug sein.
Wexmell lächelte amüsiert, dann zog er Desiderius wieder in seine Arme und seufzte erleichtert an seinem Ohr. »Ich bin bloß froh, dass dir nichts passiert ist.«
Desiderius legte die Hände auf seinen Rücken und drückte ihn fest an sich. »Ich weiß, ich auch.«
Eine ganze Weile hielten sie sich einfach aneinander fest, schlossen die Außenwelt aus, wie sie es oft taten, und genossen schlicht den Herzschlag des jeweils anderen an der eigenen Brust…
Jemand räusperte sich hinter Desiderius und erinnerte sie daran, dass sie nicht allein waren. Es war ihm jedoch gleich, er hielt Wexmell noch einen Moment länger fest, bis er sicher war, dass Wexmells Erleichterung jeglichen Kummer vertrieben hatte.
Mittlerweile war auch Eagle nähergetreten, auf einen Gehstock gestützt und deutlich humpelnd, während er wie erwartet mit einem verschlossenen, herrschaftlichen Blick die Männer hinter Desiderius betrachtete. »Ein Verräter und viele Fremde bringst du in mein Haus.«
Mit Verräter meinte er Zazar, den er auch sogleich mit verachtender Miene strafte. Was Bellzazar natürlich kalt ließ.
Die kritische Miene würde Eagle ohnehin schon bald vergehen.
Desiderius löste sich etwas von Wexmell, um den Kopf Eagle zuzuwenden. »Mein Kaiser«, inszenierte er voller Sarkasmus, »ich bringe einen verlorenen Sohn in Euer Heim.«
Eagle runzelte irritiert seine Stirn, ehe er aufgebracht den Blick erneut über die Männer schweifen ließ, nun jedoch voller Hoffnung. Natürlich dachte er zunächst an Desith, aber die Hoffnung schwand schnell aus seinen Augen.
Noch versteckte sich der Kleine hinter Ragons Rücken und war nicht gewillt, sich selbst zu offenbaren.
Desiderius lächelte nachsichtig und wandte sich wieder an Wexmell, der ihn neugierig, aber offen betrachtete.
»Ich habe dir zwei Dinge gebracht, Liebster«, lächelte er und nahm Wexmells Hand, »einen Spiegel, der atmet, und einen lebenden Toten.«
Wexmell schüttelte belustigt den Kopf. »Wovon sprichst du?«
Mit einem geheimnisvollen Lächeln drehte Desiderius sich halb zu den anderen um und gab den Blick auf den Mann hinter sich frei.
Wexmells Knie wurden weich und Unglauben ließ ihn den Mund aufklappen. »Cohen!«, keuchte er und hielt sich an Desiderius` Arm fest, seine Augen wurden feucht. »Wie … wie kann das …«
Cohen lächelte zurückhaltend. »Schön, Euch zu sehen, Wexmell-«
Da warf sich Wexmell ihm bereits an den Hals und drückte ihn so fest, dass er würgte.
Leise lachte Desiderius über seinen Prinzen und schüttelte amüsiert den Kopf. In diesem Moment hätte er nicht mehr Liebe für Wex empfinden können. Wie er Cohen einfach mit offenen Armen empfing und sich ebenso freute wie Desiderius, obwohl sie eine nicht ganz unbeschwerte Vorgeschichte teilten. Aber Wexmell war noch nie ein eifersüchtiger Kauz gewesen. Genau das liebte er an Wex. Sein Wex, mit dem großen Herzen.
Cohen zögerte einen Moment, bis er Wexmell die Hände auf den Rücken legte und endlich entspannt die Umarmung erwiderte. Tränen der Rührung im blutroten Auge.
»Welchem Wunder wir diesen Umstand auch verdanken«, sagte Wexmell voller Liebe und umfasste Cohens Gesicht, »mein Herz frohlockt, weil es dich sieht!«
»Diesem Wunder«, schmunzelte Cohen und deutete mit einem Kopfnicken auf Bellzazar. »Er hat mich zurückgebracht.« Dabei sah sein blutrotes Auge beinahe vorwurfsvoll in Desiderius` Richtung.
»Rumgespielt hat er«, murrte Desiderius und sah seinen Bruder teils tadelnd, teils amüsiert an.
Zazar zuckte mit den Schultern, wobei er einen deutlichen Schritt neben Cohen trat, als wollte er ihn von Wexmell wegziehen. »Wenn du das so nennen willst…«
»Cohen!« Eagle streckte einen Arm aus und Cohen überbrückte den Abstand, um seinen alten Freund brüderlich zu umarmen. Eagle hatte Tränen in den Augen. »Ich muss träumen! All die Jahre … und jetzt stehst du einfach hier …?«
»Wir haben schon unglaublichere Dinge gesehen«, warf Cohen ein. »Und wir wussten immer, dass es ein Wiedersehen geben wird.«
Aber nicht hier, dachte Desiderius aufgewühlt. Nicht in dieser Welt, nicht in diesem Leben. Und doch war es so. Wie so viele andere unglaubliche Dinge auch. Er konnte nur die Hälfte von dem, was ihm heute offenbart wurde, wirklich verstehen und glauben, und doch verpufften sie nicht einfach wieder wie ein verrückter Traum. Sie waren wirklich.
Er war froh, wenn dieser Tag dem Ende zu ging und er sich eine Weile zurückziehen konnte, um all das erst einmal angemessen zu verdauen. Das brauchten sie jetzt alle. Einfach Zeit, sich an die neue Wahrheit zu gewöhnen.
Aber zuerst mussten sie alle noch ihre Pflichten erfüllen und stark bleiben, zumindest nach außen hin, obwohl ein Sturm in ihren allen Herzen tobte.
»Wer seid ihr alle?«, verlangte Eagle zu erfahren und humpelte neben Desiderius. »Und was meintest du mit verlorenem Sohn?«
Söhne, sollte er wohl eher sagen, doch das besprach er am besten zuerst mit Wexmell allein. Hier ging es auch nicht um Ragon, zumindest nicht darum, wer dessen Vater war. Nein, es ging nicht um ihn oder Desiderius, es ging um Eagle und um …
»Deinen Sohn!«, betonte Desiderius und trat vor Ragon. Er streckte eine Hand aus und sprach zu dessen Schulter: »Komm schon, zeig dich.«
Zögerlich linste ein frostblaues Auge um Ragon herum, goldgelocktes Haar schimmerte in der weißen Marmorhalle auf. Es wurde totenstill im Saal und die Anspannung wurde greifbar.
Ragon drehte sich halb zu dem ängstlichen Burschen um. »Geh schon«, drängte er sanft, wobei seine Stimme durch die Maske gedämpft klang. »Hab keine Angst.«
Doch dieser andere, dieses dunkelhäutige Spitzohr, trat dicht neben den Jungen, als