1 Die sieben Sonnenuhren. Ein Platz, in dessen Mittelpunkt eine Säule mit sieben Sonnenuhren steht, deren jede nach einer der hier sich concentrirenden Straßen gerichtet ist.
Sechstes Kapitel
Gedanken in der Monmouthstraße
Wir haben von jeher eine besondere Anhänglichkeit an die Monmouthstraße, als dem einzig reellen Emporium für alte Kleider gehabt. Die Monmouthstraße ist ehrwürdig wegen ihres Alterthums und achtungswürdig wegen ihrer Gemeinnützigkeit. Die Holywellstraße ist verächtlich; wir verabscheuen die rothköpfigen und rothbärtigen Juden, welche die Vorübergehenden mit Gewalt in ihre schmutzigen Häuser hineinzerren und ihm einen Anzug aufdringen, mag er ihn nun wollen oder nicht.
Die Bewohner der Monmouthstraße bilden ein eigenes Völkchen; es sind friedliche, zurückgezogene Leute, welche sich die meiste Zeit über in tiefe Keller oder kleine Hinterstübchen einmauern und nur selten an's Licht der Welt treten, außer in der Dämmerung und Kühle des Abends, wo sie in Lehnstühlen vor ihren Häusern sitzen, ihre Pfeife rauchen oder die Luftsprünge ihrer jubelnden Kinder überwachen, welche sich in den Gossen balgen, eine glückliche Truppe junger Straßenfeger. Auf ihrem Gesichte drückt sich Nachdenken und Achtlosigkeit auf ihr Aeußeres aus, sichere Zeichen ihrer Liebe zum Handel; und ihre Wohnungen unterscheiden sich durch Vernachlässigung des äußeren Gepränges und der persönlichen Bequemlichkeit, eine Gewohnheit, die bei Leuten so häufig vorkommt, welche beständig über tiefen Speculationen brüten und mit Geschäften überhäuft sind, welche nicht viel Bewegung erfordern.
Wir haben auf das Alterthum unserer Lieblingsstraße hingedeutet. »Ein Tressenrock aus der Monmouthstraße« sagte man schon vor einem Jahrhundert; und immer noch ist die Monmouthstraße dieselbe. Lotsenüberröcke mit hölzernen Knöpfen haben die Stelle der gewichtigen Tressenröcke mit voller Einfassung eingenommen; gestickte Westen mit großen Knöpfen sind den doppelten Brusttüchern mit Rollkrägen gewichen; und Dreispitze von seltsamem Aussehen haben den niederen, breitkrempigen Kutscherhüten Platz gemacht; aber es ist die Zeit, welche diese Veränderung hervorgebracht hat, nicht die Monmouthstraße. Bei jeder Umwandlung, bei jedem Wechsel ist die Monmouthstraße stets die Begräbnißstätte der Moden gewesen, und dem ganzen gegenwärtigen Anscheine nach wird sie es bleiben, bis es keine Moden mehr zu begraben gibt.
Wir wandeln gerne zwischen diesen weiten Gräbern der erlauchten Todten und geben uns den Gedanken hin, die sie in unserem Geiste erwecken. Wir messen bald einen hingeschiedenen Rock, bald ein todtes Paar Hosen, bald die irdischen Ueberreste einer Staatsweste einem Wesen an, das wir selbst heraufbeschwören, und suchen aus der Gestalt und Façon des Gewandes auf seinen früheren Eigenthümer zu schließen und denselben unserem inneren Auge vorzuführen. In solche Gedanken vertieften wir uns so lange, bis ganze Reihen Röcke von ihren Nägeln herabsprangen und sich aus eigenem Antrieb um den Leib eingebildeter Träger schloßen; Linien von Hosen hüpften herunter, um sich ihnen anzureihen; Westen zerprangen beinahe vor Begierde, sich umzuhängen, und ein halber Morgen Schuhe fand plötzlich Füße, denen sie sich anpaßten, und humpelten mit ihrem Gepolter die Straße hinab, das uns beinahe aus unserer süßen Träumerei geweckt und mit einem wilden Starrblicke langsam fortgedrängt hätte, worüber das gute Völkchen in der Monmouthstraße höchlich erstaunt und der Polizeidiener an der gegenüber liegenden Straßenecke nicht wenig argwöhnisch geworden wäre.
Mit solchen Gedanken beschäftigten wir uns eines Tages, für ein Paar umgestülpte Halbstiefel aus der Vorrathskammer unserer Einbildungskraft eine Person hervorholend, der sie, redlich gestanden, um die Hälfte zu klein waren, als uns einige vor einem Ladenfenster ausgehängte Anzüge in die Augen fielen. Es war uns auf der Stelle klar, daß sie alle einem und demselben Individuum angehört, in verschiedenen Lebensperioden von ihm getragen worden und nun durch eine jener seltsamen Verknüpfungen der Umstände, die uns so oft vorkommen, in einem und demselben Laden miteinander zum Verkauf ausgestellt waren. Die Idee schien uns phantastischer Natur zu sein, und wir betrachteten die Kleider wieder mit dem festen Entschlusse, uns nicht so leicht hinreißen zu lassen. Aber nein; wir hatten Recht. Je länger wir sie betrachteten, desto mehr wurden wir von der Wahrheit unserer ersten Vermuthung überzeugt. Des Mannes ganzes Leben war so leserlich auf diesen Kleidern geschrieben, als hätten wir seine Selbstbiographie auf Pergament gedruckt vor uns.
Das erste war ein geflickter und stark beschmutzter Skeletanzug; eines von jenen engen, blauen Tuchgehäusen, in welche die Jungen gesperrt zu werden pflegten, ehe Gürtel und Kinderröcke auf- und alte Gebräuche abkamen – eine sinnreiche Erfindung, die volle Symmetrie einer Knabengestalt hervorzuheben, indem man ihn in eine enganschließende, auf beiden Seiten der Brust mit einer Reihe Knöpfe dekorirte Jacke steckt, über welcher die Hosen zugeknöpft werden, daß es den Anschein gewinnt, die Beine seien gerade unter den Achselhöhlen eingefügt. Dieß war der Anzug des Knaben: – er hat nämlich einem Knaben aus der Stadt gehört, das konnten wir sehen; die Beinkleider und die Aermel hatten eine Kürze und die Kniee eine Fülle, welche der aufwachsenden Jugend der Londoner Straßen eigenthümlich ist. Es war offenbar ein kleiner Privatschüler. Hätte er eine öffentliche Knabenschule besucht, so würde man nicht geduldet haben, daß er so viel auf der Hausflur spielte und seine Kniee so abrutschte. Auch hatte er eine nachsichtige Mutter und keinen Mangel an Halbpencestücken, wie die vielen, von einer klebrigen Substanz herrührenden Schmutzflecken im Umkreis der Taschen und unter dem Kinn, die sogar die Geschicklichkeit des Verkäufers nicht herauszubringen vermochte, zur Genüge bewiesen. Seine Eltern waren wohlhabend, aber nicht mit Reichthum überladen, sonst hätten sie ihn den Anzug nicht so lange tragen lassen, bis er in jene Corduroys mit der runden Jacke überging, worin er eine öffentliche Knabenschule besuchte, in der er schreiben lernte und zwar mit einer Tinte von nicht sehr übertriebener Schwärze, wenn man die Stelle, wo er seine Feder abzuwischen pflegte, für einen Beweis gelten lassen mag.
Ein schwarzer Anzug und die Jacke wichen einem Diminutivrock. Sein Vater ist gestorben, und die Mutter hat den Knaben als Laufburschen in eine Schreibstube gethan. Ein lange getragener Anzug; abgeschabt und fadenscheinig, bevor er abgelegt wurde, aber reinlich und fleckenlos bis an's Ende. Armes Weib! Wir können uns ihre verstellte Freude über das spärliche Mahl und die Verkleinerung ihrer eigenen Portion zu Gunsten des hungrigen Knaben vorstellen. Ihre beständige Sorge für seine Wohlfahrt, ihr Stolz auf sein Heranwachsen, zuweilen mit dem quälenden Gedanken vermischt, wenn er ein Mann sein würde, könnte seine alte Liebe erkalten, seine alte Zärtlichkeit abnehmen und seine alten Versprechungen vergessen werden – der stechende Schmerz, den ihr schon jetzt ein liebloses Wort oder ein kalter Blick verursachen würde – das Alles drang sich unserem Geiste so lebhaft auf, als hätten wir den ganzen Auftritt vor Augen.
Diese Dinge ereignen sich zu jeder Stunde und wir Alle wissen es; und doch fühlten wir so viel Kummer, als wir die Veränderung, die jetzt Platz zu greifen begann, sahen, oder zu sehen uns einbildeten – was auf Eins hinausläuft – als hätten wir eben erst die bloße Möglichkeit begriffen, daß so etwas zum ersten Male vorkommen könnte. Der folgende Anzug – schmuck, aber nachlässig, anscheinend flott, aber nicht halb so anständig, als sein fadenscheiniger Vorgänger, und traurig über das müßige Herumlungern und die schlechte Gesellschaft – erzählte uns, wie wir uns vorstellten,