Doch wir haben den Laden völlig vergessen. Wir fuhren also fort, ihn zu bewachen, und jeder Tag bewies die Zunahme der Armuth seiner Miethsleute nur zu klar. Die Kinder waren allerdings reinlich, aber ihre Kleider abgetragen und zerlumpt; es konnte kein Miethsmann für den obern Stock aufgetrieben werden, von dessen Beitrag doch ein Theil der Hausmiethe hätte bestritten werden können, und eine langsam schleichende Abzehrung, die bereits weit um sich gegriffen hatte, gestattete dem ältesten Mädchen nimmer, ihre Geschäfte fortzusetzen. Das Vierteljahr kam herbei; der Hausbesitzer hatte durch die Uebertriebenheit des vorigen Miethers Schaden genug gelitten und daher mit der Noth seines Nachfolgers kein Mitleiden; er ließ ihm Execution einlegen.
Als wir eines Morgens vorübergingen, waren die Auspfänder gerade beschäftigt, die wenigen Mobilien, die noch im Hause waren, fortzuschaffen, und ein neuer Anschlag unterrichtete uns, daß das Haus abermals »zu vermiethen« sei. Was aus dem Miether geworden, konnten wir nie erfahren; wir glauben aber, daß das Mädchen aller Leiden enthoben und aller Sorgen frei wurde. Gott sei ihr gnädig! wir hoffen, daß unsere Vermuthung wahr ist.
Die Neugierde trieb uns, zu erfahren, wie das Schauspiel weiter verlaufen würde – denn daß auf diesem Platze kein Glück zu hoffen war, darüber waren wir vollkommen im Reinen. Der Anschlag wurde bald darauf ab- und im Laden einige Veränderungen vorgenommen. Wir befanden uns in einem vollständigen Erwartungsfieber – wir erschöpften uns in Vermuthungen, – stellten uns alle möglichen Handelsgeschäfte nach der Reihe vor, und keines wollte vollkommen mit unserer fixen Idee übereinstimmen, daß dieser Miethsladen nothwendig nach und nach zu Grunde gehen müsse. Endlich wurde er eröffnet, und wir mußten uns nicht wenig wundern, daß uns seine nunmehrige wirkliche Gestaltung nicht früher beigefallen war. Der Laden – zu seinen bessern Zeiten schon keiner der größten – war nun in zwei verwandelt; den einen hatte ein Hutformenschneider inne, den andern ein Tabakshändler, der auch Spazierstöcke und Sonntagsblätter hielt. Die beiden Abtheilungen waren durch eine dünne Tapetenwand von einander getrennt.
Der Tabakshändler blieb länger im Besitze als irgend ein Miethsmann aus unserer Erinnerung. Er war ein schamloser, nichtsnutziger Kerl, mit einem Kupfergesicht; augenscheinlich gewohnt, alles anzunehmen, wie es kam, und zum schlechten Spiele gute Miene zu machen. Er verkaufte so viele Cigarren, als er konnte, und rauchte die übrigen selbst; dabei behauptete er seinen Laden so lange, als ihm der Hausbesitzer Frieden ließ, und so bald dieß aufhörte, schloß er ganz ruhig die Thüre und ging davon.
Von dieser Zeit an waren die beiden kleinen Höhlen unzähligen Veränderungen unterworfen. Auf den Tabakshändler folgte ein Haarkräusler, der die Fenster mit einer großen Mannigfaltigkeit von »Charakteren« und schrecklichen Schlachten verzierte; der Hutformenschneider machte einem Gewürzhändler Platz, und der hanswurstartige Haarkünstler hatte einen Schneider zum Nachfolger. Kurz, der Wechsel war so zahlreich, daß wir zuletzt weiter nichts zu thun hatten, als die besonderen aber sicheren Anzeigen zu beobachten, daß das Haus der Schauplatz der Armseligkeit war. Diese hatte auch in der That fast unbegreifliche Fortschritte gemacht. Die Bewohner traten nach und nach Zimmer für Zimmer ab, so daß sie sich zuletzt blos noch das kleine Wohnzimmer vorbehielten.
Zuerst zeigte sich an der Hausthüre eine Messingplatte, auf der leserlich geschrieben war: »Damenschule«; gleich daneben bemerkten wir eine zweite Messingplatte; dann eine Glocke und noch eine zweite Glocke.
So oft wir vor diesem unserm alten Freunde stille hielten, und diese Zeichen seines Verfalles beobachteten, die nicht fehlgedeutet werden konnten, so dachten wir beim Fortgehen, daß dieses Haus auf dem äußersten Gipfel seiner Erniedrigung angelangt sei. Wir hatten aber nicht Recht, denn als wir neulich vorübergingen, war eine »Melkerei« auf dem Hofe errichtet, und eine Partie schwermüthig aussehenden Geflügels unterhielt sich damit, zur Vorderthüre hinein und zur Hinterthüre heraus zu spazieren.
Viertes Kapitel
Scotland-Yard.
Scotland-Yard ist ein kleiner – ein sehr kleiner Strich Landes, auf der einen Seite durch die Themse, auf der andern durch die Gärten von Northumberland House begrenzt, und am einen Ende an den Anfang der Northumberland Street, am andern an die Rückseite von Whitehall-Place stoßend. Als dieses Gebiet zuerst von einem Landedelmann, der sich auf dem Strand verirrt hatte, vor mehreren Jahren zufälligerweise entdeckt worden war, ergab sich, daß die ersten Ansiedler ein Schneider, ein Zolleinnehmer, zwei Speisewirthe und ein Obstpastetenbäcker waren; auch ergab sich, daß der Platz von einem kräftigen Schlage Männer besucht wurde, welche regelmäßig jeden Morgen zwischen fünf und sechs Uhr auf den Löschplätzen von Scotland-Yard erschienen, um schwere Wagen mit Kohlen zu beladen, welche sie in die Umgegend verführten, um die Einwohner mit dem nöthigen Brennstoffe zu versehen. Wenn sie ihre Wagen abgeladen hatten, fuhren sie wieder zurück, um neuen Succurs zu holen, und dieser Handel dauerte das ganze Jahr hindurch fort.
Da die Ansiedler diesen ersten Handelsleuten ihre Bedürfnisse lieferten, um ihren Unterhalt dadurch zu gewinnen, so sah man es den zum Verkauf ausgestellten Gegenständen und den Verkaufsplätzen von Außen deutlich an, daß sie ausdrücklich dem Geschmack und dem Wunsche derselben angemessen waren. Der Schneider legte an seinem Fenster ein liliputisches Paar Ledergamaschen und eine runde Miniaturjacke aus, während jeder Thürpfosten mit einem angemessenen Modell eines Kohlensacks verziert war. Die beiden Speisewirthe stellten ZiemerA4 von einer Größe und Puddinge von einer Solidität aus, welche nur Kohlenträger zu schätzen vermögen, und der Obstpastetenbäcker entfaltete auf seinem wohlgescheuerten Fenstergesimse weißes Backwerk aus feinem Mehl und Bratenfett, mit fleischfarbenen Karten dekorirt, welche das Obst, das darin war, auf eine Weise anpriesen, daß den Vorübergehenden der Mund wässerte und die Füße beinahe den Dienst aufkündeten.
Aber der besuchteste Platz in ganz Scotland-Yard war das alte Wirthshaus im Winkel. Hier saßen in einem dunklen getäfelten Zimmer von altväterischem Aussehen, das durch die Flamme eines gewaltigen Feuers erheitert wurde und mit einer ungeheuren Uhr geziert war, welche ein weißes Zifferblatt mit schwarzen Figuren hatte, die kräftigen Kohlenträger, lange Züge des besten Barkleytabaks in sich trinkend und Rauchmassen hervorstoßend, welche sich über ihren Köpfen kräuselten und das Zimmer in eine dichte, finstere Wolke einhüllten. Von diesem Gemach aus drang der Laut ihrer Stimmen in einer Winternacht bis an das Ufer des Stroms, wenn sie einen vollen Chor anstimmten oder den Schlußreim eines Volksliedes brüllten, auf den letzten wenigen Worten mit einem starken, lang gehaltenen Nachdruck verweilend, welcher die Decke über ihnen erbeben machte.
Hier erzählten sie sich auch alte Legenden von dem, was die Themse in früheren Zeiten gewesen, als die Patentschrotfabrik noch nicht erbaut war und noch Niemand an die Waterloobrücke dachte; und dann schüttelten sie zur großen Erbauung des nachwachsenden Kohlenträgergeschlechts, das um sie versammelt war, mit bedeutsamen Blicken die Köpfe und waren begierig, was das Alles noch für ein Ende nehmen würde; worauf der Schneider seine Pfeife feierlich aus dem Mund nahm und sagte: er hoffe, es möchte ein gutes Ende nehmen, obgleich es sehr zweifelhaft wäre, ob dieß der Fall sein würde oder nicht; und er könne nicht mit Bestimmtheit angeben, was er davon denken solle – eine geheimnißvolle Meinungsäußerung, und dazu mit einer halb prophetischen Miene vorgebracht, welche nicht ermangelte, der versammelten Gesellschaft ihre vollste Beistimmung zu entlocken. Und so tranken sie denn und waren begierig, bis die zehnte Stunde herbeikam und mit ihr des Schneiders Ehefrau, um ihren Gemahl heim zu holen, worauf denn die kleine Gesellschaft aufbrach, um am folgenden Abend zur nämlichen Stunde in der nämlichen Stube wieder zusammen zu kommen und wieder ganz das Nämliche zu sprechen und zu thun.
Um