Elduria - Runa oder das Erwachen. Norbert Wibben. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Wibben
Издательство: Bookwire
Серия: Elduria
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181363
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und zu unerklärliche Dinge widerfahren. Warum wiederholen sich manche Ereignisse, andere wiederum nicht?

      Seit sie in die Augen der Eidechse geschaut hat, tauchen seltsame Bilder in ihrem Kopf auf. Sie zeigen Gewalt gegen Menschen, die ihr unbekannt sind. Die Örtlichkeiten, an denen die Szenen stattfinden, kennt sie genauso wenig. Sie wagt es nicht, darüber mit Pulmoria oder anderen zu reden. Auch wenn sie bereits lange im Gasthaus »Fuchs und Gans« lebt, fühlt sie nicht die gleiche Nähe und Vertrautheit zu dessen Bewohnern wie früher zur Amme. Sie befürchtet, von ihnen womöglich als Magierin bezeichnet zu werden und anschließend auf dem Scheiterhaufen zu landen.

      Runa hat in Kaytlins Büchern von Hexen und Zauberern gelesen, und wie manche Menschen auf sie reagieren. Da die Wirtin nie Zeit hatte, mit dem Mädchen über das Geschriebene zu reden, weiß es nicht, ob das Tatsachenberichte oder Fantasie-Geschichten, also Märchen sind. Darin wird nicht nur von Elfen und Zauberern berichtet, sondern auch von Drachen und

      Magiern.

      Runa grübelt. Es heißt doch, Märchen hätten meist einen wahren Kern! Sollte sie demnach über schwache magische Kräfte verfügen? Woher sie die haben kann, ist ihr unerklärlich. Sie schlussfolgert trotzdem, so etwas wie das zweite Gesicht zu haben. Dieser Gedanke klingt so abwegig, dass sie ihn stets aus dem Kopf drängt, sobald er sich hervorwagt. Sie könnte die Wiederholung mancher Bilder auch einfach deshalb sehen, weil sie tatsächlich noch einmal stattfinden. Nach Tagen wäre es durch eine Doppelung der Ereignisse erklärbar, aber ist das innerhalb weniger Augenblicke möglich? Dann müsste der zeitliche Ablauf doch durch irgendetwas ins Stolpern geraten oder so ähnlich. Das ist zumindest Runas Erklärung.

      Sie vermag Sekunden in die Zukunft zu schauen, das hat sie inzwischen herausbekommen. Warum das manchmal so ist, ein anderes Mal wiederum nicht, versteht sie nicht. Sie wagt nicht, darüber mit irgendjemand zu diskutieren. Sie wüsste auch nicht, an wen sie sich damit wenden sollte. Pulmoria interessieren keine anderen Themen als Rezepte für ausgefallene Gerichte. Und Dragon? Bei dem Jungen ist Runa unsicher. Er scheint ihr manchmal helfen zu wollen, reagiert auf Fragen dann wiederum mehr als verschlossen.

      Die Wirtin Kaytlin wäre noch eine Möglichkeit. Sie hat das Mädchen kurzentschlossen aus den Fängen der Strauchdiebe befreit. Aber ist das ein Beweis, dass sie mit ihr über derart gefährliche Angelegenheiten diskutieren kann? Manchmal hat sie das Gefühl, für die Wirtin so etwas wie eine Tochter zu sein. Sie hatte beispielsweise völlig unerwartet ein Geschenk zu Runas Geburtstag. Es war eines ihrer Bücher.

      Der Kohlelieferant kommt genauso wenig infrage wie andere Lieferanten des Wirtshauses. Und die Kinder der Nachbarschaft? Nein, die hielten sich schon immer möglichst weit entfernt von ihr, wenn sie einmal mit ihnen spielen durfte. Fragen zu magischen Kräften und derartige Themen werden von dem Mädchen zwar erörtert, aber stets mit sich selbst.

      Runa ist an diesem Morgen schon früh auf dem Weg ins Rathaus, das wie eine kleinere Ausgabe einer Burg wirkt. Sie soll dort im Auftrag der Wirtin eine Bescheinigung abholen. Sie erklimmt die Stufen zum Eingangsportal, als vor ihr feiner Sand und kleinere Bruchstücke vom Himmel auf das Podest vor dem Eingang fallen, kurz bevor ihnen ein großer Sandstein folgt. Er sieht aus wie eine der Zinnen. Warum der aus der Mauerkrone zu Boden fällt, wo er seit der Erbauung des Gebäudes sicher platziert war, ist ein Rätsel. Doch zu dessen Lösung hat das Mädchen keine Zeit, als sie einen Jüngling aus der Eichentür herauskommen sieht. Er ist einige Jahre älter als Runa und trägt teure Kleidung. Sie bemerkt verwundert, dass der Steinblock dort nicht mehr liegt, wohin er soeben gefallen ist. Sie schaut nach oben. Von den Zinnen rieseln erneut feiner Sand und kleinere Steinchen herab, nur dass sie dieses Mal direkt neben dem Untenstehenden auf dem Boden landen. Der beachtet das nicht, weil er soeben von hinten angesprochen wird und sich zum Sprecher im Inneren umdreht. Instinktiv gibt Runa einen lauten Warnruf von sich, stürmt vorwärts und stößt den jungen Mann zurück. Sie bemerkt den starken Luftzug, als direkt hinter ihr der schwere Steinquader auf den Boden kracht. Das Poltern und die Erschütterung lassen die auf dem Marktplatz vor dem Rathaus Anwesenden verstummen. Runa wischt sich hektisch den Staub aus den Augen. Konnte sie den Jüngling retten? Bis auf den ersten Überraschungsruf hört sie nichts von ihm. Ihre Knie und eine Schulter schmerzen. Sie muss sich dort beim Sturz auf den Untergrund verletzt haben. Doch das ist unwichtig! Bevor sie etwas zu sehen vermag, die Augen tränen vom eingedrungenen Staub, wird sie brutal hochgerissen.

      »Wie kannst du die Frechheit besitzen und es wagen …? Weißt du nicht, dass es ein Verbrechen ist, Syr Brendan, den Sohn Owains, zu berühren? Und du wirfst ihn sogar um. Schau nur, wie du seine Kleidung ruiniert hast. Wachen, herbei!«

      Runa erstarrt und hält den Atem an. Der Name Owain weckt eine verschüttete Erinnerung in ihr. Hieß so nicht der Befehlshaber der Männer, die Atropaia gefangen genommen und entführt haben? Sie bekommt heftiges Herzklopfen und ein Gefühl von Atemnot. Sollte sie endlich, nach sieben Jahren, die Spur zur Amme wiedergefunden haben? Das mag sie kaum glauben. Wenn der Sohn dieses Mannes hier ist, müsste Owain vermutlich auch hin und wieder hier sein. Warum sollte er ihr dann nicht aufgefallen sein? Sie ist in den vielen Jahren des Öfteren auf dem Markt gewesen, da hätte sie ihn doch wenigstens einmal sehen müssen!

      Sie wird unsanft aus ihren Grübeleien gerissen, als sie von starken Fäusten gepackt und Richtung Eingang gestoßen wird.

      »Bringt sie in den Kerker. Ich werde mich später um sie kümmern! Jetzt ist zu allererst der Zustand von Owains Sohn wichtiger!« Das spricht die gleiche Stimme wie eben, doch Runa vermag sie keinem Gesicht zuzuordnen. Kann das der Anführer der Männer von damals sein? So wie der letzte Satz formuliert wurde, vermutlich nicht. Selbst wenn sie es schaffen könnte, sich zum Sprecher umzudrehen, würde das nichts bringen. Ihre Augen tränen unablässig und verhindern einen klaren Blick. Sie auszuwischen vermag sie nicht. Ihre Arme und Hände werden von starken Fäusten festgehalten.

      »Hoher Herr«, wagt sie, mit zitternder Stimme einzuwenden. »Ich wollte dem Jungen doch nichts Böses!«

      »Du wagst es, ihn so zu nennen? Er muss von Normalsterblichen mit »Syr« und vollem Namen angeredet oder benannt werden. Und der lautet Brendan ap Owain. Für deine Ungebührlichkeit wirst du zehn Peitschenhiebe bekommen!«

      Runa wird bereits vorwärtsgestoßen, als sich der junge Mann zu Wort meldet.

      »Einen Moment, Gwydion. Du tust dem Kind Unrecht! Ich verdanke ihm vermutlich mein Leben. Schau nur, dieser mächtige Brocken ist von oben herabgefallen und dies Mädchen hat mich aus der Gefahrenzone gestoßen.« Er wendet sich ihr lächelnd zu. »Ich danke dir. Gibt es irgendeinen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?«

      Runa überlegt. Soll sie einem ersten Impuls folgen und nach Atropaia fragen? Könnte das erfolgversprechend sein? Ihr fällt in diesem Moment auf, dass er nicht sie anblickt, sondern auf ihr S-förmiges Mal starrt. Durch die rüde Behandlung der Wachen war der Ärmel heraufgerutscht und hatte es freigelegt. Sein starrer Blick lässt sie unwillkürlich von der Frage absehen.

      »Nein. Ich freue mich, dir geholfen zu haben.« Das scharfe Einziehen der Luft kommt von Gwydion. Bevor der etwas zu äußern vermag, verbessert sich Runa. »Verzeihung. Ich wollte natürlich »Syr« sagen, Brendan ap Owain.«

      Beim glockenhellen Lachen des jungen Mannes entspannt sich das Mädchen. Die Tränen haben den letzten reizenden Staub aus Runas Augen gespült. Deshalb erkennt sie, wie er sie mit gekrauster Stirn mustert. Bei seinen folgenden Worten verkrampfen sich sofort ihre sämtlichen Muskeln.

      »Also ist dir mein Leben nichts wert, oder wie soll ich das sonst deuten?«

      »So ist das nicht gemeint, Syr. Ich habe lediglich schnell helfen wollen und erwartete keine Gegenleistung.« Wird sie jetzt doch noch in den Kerker geworfen? Nicht, weil sie diesen hochnäsigen Sohn des Mannes gestoßen hatte, der ihre Amme entführen ließ. Sondern, aus dem nichtigen Grund, dass sie von ihm kein großes Geschenk fordert?

      »Aha, dann nimm zum Dank dieses Silberstück.« Er nestelt mit hochgezogenen Augenbrauen und lächelnder Miene an seiner Geldbörse herum und reicht ihr das angekündigte Geldstück. Runa vermag nur mit Mühe die Frage zu unterdrücken, ob sein Leben von ihm so geringgeschätzt wird. Aber sie beherrscht sich und nimmt das Geld nicht. Es könnte