»Wir lassen sie hier und kommen in zwei Wochen wieder. Solltet ihr dann mit ihr zufrieden sein …«
»RAUS!«, brüllte die Wirtin, was sofort befolgt wurde. Sollte das auch für Runa gelten? Offenbar schon, denn die Frau herrschte anschließend auch sie an. »Hast du mich nicht verstanden? Los, sieh zu, dass du deinen Geschwistern hinterherkommst. Ich sehe nicht ein, dich durchzufüttern!«
Runa konnte es nicht fassen, stand aber trotzig an der Stelle, wo Katie sie stehengelassen hatte. Außerdem schmerzten die Füße derart, dass sie meinte, bei der kleinsten Bewegung aufschreien zu müssen.
»Das … sind nicht … Sie haben mich überfallen … und mitgeschleppt«, stotterte das Mädchen mit kaum hörbarem Stimmchen. Es räusperte sich und fuhr dann etwas fester fort. »Ich suche Paia, meine Amme. Wir wohnen im Wald. Sie wurde gestern von Männern verschleppt.« Sofort flossen die Tränen erneut über das inzwischen schmutzige, kleine Gesicht. Die riesigen, dunkelblauen Augen richtete es auf die Wirtin, zitterte heftig und kippte plötzlich um.
Runa wachte in einem Bett auf. Es war kein richtiges mit Holzgestell und Federbett, wie sie es aus dem Haus im Wald kannte. Nein, es war lediglich ein mit duftigem Heu gefüllter Leinensack. Aber nach der vergeblichen Suche und der langen Wanderung kam es dem Kind wie das Paradies vor.
»Ich heiße Kaytlin und bin die Wirtin vom »Fuchs und Gans««, stellte sich die Frau vor, die offenbar an ihrem Lager gewacht hatte. »Und wer bist du?«
»Hör auf zu träumen«, wird Runa durch den Knecht des Gasthauses aus ihren Gedanken gerissen. »Wenn du nicht willst, dass du heute kein Abendessen bekommst, solltest du zusehen, mit dem Kartoffelschälen fertig zu werden.«
Erschrocken fährt das für sein Alter kleine Mädchen zu dem Sprecher herum. Es weiß nicht, wie es den Jungen einordnen soll. Er wirkt oft mürrisch, manchmal aber auch freundlich. Er ist etwa gleichalt, heißt Dragon und hilft überall im Wirtshaus. Manches Mal springt er an ihre Seite, um beim Tragen schwerer Dinge zu helfen. Das führt hin und wieder dazu, dass er sie in seiner Hast anrempelt. Das wirkt so, als ob er nicht genau abschätzen könne, wie schnell er agieren sollte. Woher er stammt, hat sie bisher nicht erfahren können. Sein Lächeln erstarrt zu einer Grimasse, sobald sie ihn in dieser Richtung auszufragen beginnt. Sofort läuft ihr dann ein Schauer über den Rücken. Welches Geheimnis umgibt ihn? Sie vermutet, er könne wie sie durch irgendeinen seltsamen Zufall in dem Wirtshaus gelandet sein.
Dragon war bereits hier, als das Mädchen verkauft werden sollte. Runas rechte Hand wandert unbewusst zu ihrem linken Unterarm. Sie spürt dort ein Gefühl der Wärme und ein feines Kribbeln, sobald der Junge sie mit seinen hellbraunen Augen fixiert. Deshalb umfasst sie jetzt den Arm mit ihrer anderen Hand.
Runa besitzt dort eine Art Brandmal, das unter dem Ärmel verborgen ist. Es ähnelt einem großen S, könnte aber auch eine Schlange sein. Sie überlegt, seit wann sie sich an das Mal erinnert. Wie konnte es dorthin gelangt sein? Sollte sie sich an einer Pfanne oder einem Topfrand verbrannt haben? Doch dann wäre sicher kein »S« das Ergebnis gewesen. Ein Halbmond oder ein gerader Strich sind eher zu erwarten, aber ein derart zweifach gebogenes Mal?
In einem Alter von zehn Jahren beginnt für die Kinder in Merion die Zeit der Ausbildung. Je nachdem, welchen Beruf sie lernen, haben sie unterschiedlich schwere Zeiträume vor sich. Runa befindet sich im dritten Lehrjahr zur Hilfsköchin. Sie hat sich soeben noch erinnert, wie sie in das Gasthaus »Fuchs und Gans« gekommen war, bis sie aus ihren Erinnerungen gerissen wurde. Warum diese Szenen heute in ihr Bewusstsein drängen, versteht sie nicht. Sie hat seit ihrer Ankunft in dem Gasthaus nur wenig an ihr voriges Leben und die Amme gedacht.
Seitdem sind mittlerweile sieben Jahre vergangen. Weshalb hat sie damals die Suche nach Paia aufgegeben? Dass das der verkürzte Name ihrer Amme gewesen ist, ist ihr inzwischen klar. Manchmal grübelt sie darüber, warum Atropaia sie hin und wieder Runa S genannt hat. In diesem Land haben die Kinder nur einen Vornamen. Lediglich diejenigen von höher gestellten Familien tragen zusätzlich einen Familiennamen. Doch »S« kann kaum eine Bezeichnung …
»RUNA!« Die Stimme von Pulmoria ruft sie zur Ordnung. »Die Kartoffeln schälen sich nicht von allein.« Mehr braucht die dicke Köchin nicht zu sagen. Das Mädchen schimpft gedanklich mit sich selbst.
»Du dumme Göre! Der Korb ist noch voll und die ersten Gäste werden bald nach dem weithin gepriesenen, guten Essen verlangen.«
Das Wirtshaus »Fuchs und Gans« wird von vielen Landarbeitern besucht. Jedenfalls von denen, die sicherstellen wollen, etwas Genießbares zwischen die Zähne zu bekommen. Es ist nicht so, dass deren Frauen nicht mit den Kochkünsten Pulmorias mithalten könnten, sie sind einfach noch nicht verheiratet.
Runa hat in den vergangenen zwei Lehrjahren vieles bei der Köchin abgeschaut, trotzdem glaubt sie nicht, jemals derart gut schmeckende Speisen zubereiten zu können. Kartoffelschälen, Gemüse putzen und andere vorbereitende Arbeiten gelingen ihr inzwischen recht ordentlich und schnell, wenn sie nicht träumt. Zu den Aufgaben einer Hilfsköchin gehört es auch, die benötigten Zutaten aus der Vorratskammer oder dem Keller zu holen. Das ist eine Tätigkeit, vor der sie stets zurückscheut. Das in dem dumpfen Gewölbe herumkrabbelnde Getier ruft heftigen Ekel in ihr hervor. Aber nicht nur diese Tiere, ob mit Fell und langem Schwanz, oder achtbeinig mit traubenförmigen Augen, leben dort. Manches Mal meint sie ein lautes Fauchen zu hören und gleich darauf schlägt ihr warme Luft entgegen. Sollte im Keller ein Drache auf sie warten? Gesehen hat sie ihn noch nie, aber was besagt das schon?
Ein Missgeschick
Runa hat von Pulmoria den Auftrag bekommen, auf dem Markt frisches Gemüse und möglichst ein oder zwei Bund rote Zwiebeln zu kaufen. Die Köchin will für das Mittagessen ein bei den Gästen des Wirtshauses beliebtes Gericht bereiten. Was es ist, hat sie dem Mädchen nicht verraten, obwohl dieses etwas ahnt. Mit dem großen Korb am Arm läuft es Richtung Zentrum des Örtchens. Es beeilt sich, weil die Luft noch kühl und die Sonne soeben erst aufgegangen ist. Runa weiß aus Erfahrung, mit Bewegung wird ihr schnell warm werden. Die Straße führt nicht besonders steil den Hügel hinab, trotzdem wird sie den Weg zum Markt leichter hinter sich bringen. Auf dem Rückweg wird sie dagegen nicht mehr hüpfend unterwegs sein, was nicht nur an dem dann gefüllten Korb liegen wird.
Runa erinnert sich plötzlich an den Morgen, an dem sie vor sieben Jahren kaum in der Lage war, dem Straßenverlauf nach Homarket zu folgen, obwohl die größte Strecke hangabwärts verlief. Lediglich das letzte Stück führte wieder aufwärts. Heute wird sie sich nicht so quälen müssen. Sie wischt die Erinnerung fort und wirft einen Blick in die Runde. Runa findet diese Region mit der hügeligen Landschaft heimelig. Sie wirkt ganz anders als das Waldgebiet, in dem Paias Häuschen steht. Dort ist für die ersten Jahre ihre Heimat gewesen. Das Haus steht auf einer großen Lichtung, doch der umliegende Wald erschien ihr seltsam bedrohlich. Das lag nicht an den Bäumen an sich, sondern mehr an den unbekannten Geräuschen, die daraus zu ihr herüberklangen. Dass der dichte Forst einen nicht zu verachtenden Schutz für sie und ihre Amme bot, wird sie noch verstehen lernen. Im Nachhinein wundert sie sich, dort nie ungezwungen mit fremden Kindern in Kontakt gekommen zu sein.
Es ist nicht so, dass sie in Homarket viel Zeit ohne Arbeit verbringen konnte. Bevor sie ihre Ausbildung zur Hilfsköchin begann, musste sie von morgens bis abends Tätigkeiten im Haus verrichten. Sollte sie damit fertig gewesen sein, und draußen herrschte noch einigermaßen helles Licht, durfte sie mit anderen Kindern spielen. Doch das war eher selten der Fall. Außerdem rümpften die Mädchen der Nachbarschaft gerne ihre Nasen, sobald Runa in ihre Nähe kam. Es lag keinesfalls daran, dass sie sich nicht wusch oder schmutzige Kleidung trug, sie war sauberer als die meisten von ihnen. Nein, der Grund war einfach, dass sie arbeiten musste, um im Wirtshaus