Elduria - Runa oder das Erwachen. Norbert Wibben. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert Wibben
Издательство: Bookwire
Серия: Elduria
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181363
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sofort. Sie erhob sich, eilte zur Haustür und öffnete sie. Sie lauschte angestrengt und verriegelte dann die wieder geschlossene Eichentür, bevor sie zum Sofa zurückkehrte. Runa wunderte sich. Was hatte das zu bedeuten? Der Riegel wurde sonst nie vorgelegt. Erst recht nicht am Nachmittag. Das Haus lag verborgen in einem Buchenwald und wurde nur selten von anderen Menschen besucht. Vor den Tieren des Waldes mussten sie sich nicht derart schützen.

      »Du weißt seit längerer Zeit, dass ich deine Amme bin.« Das Kind nickte zur Bestätigung. Das war ihm egal, denn es liebte die Frau genauso, als wäre sie die leibliche Mutter. Atropaia fuhr gehetzt fort. »Das wurde ich, weil Raika, so lautet der Name deiner Mom, gestorben ist, als du gerade geboren warst. Ich habe versucht, dich bestmöglich zu umsorgen.« Das war dem Mädchen alles bekannt. Was sollte daran wichtig sein? Die nächsten Sätze bekam es nicht mit, da seine Gedanken darum kreisten, was womöglich der Grund für Puschels plötzliches Unwohlsein sein würde. Runa hatte zu dem Kaninchen geschaut und wurde von Atropaia geschüttelt. »Du hast nicht aufgepasst, mein Winterkind. Wie solltest du auch wissen …« Die Frau unterbrach sich und horchte Richtung Tür.

      Lauter werdender Hufschlag drang ins Innere. Da der Waldboden derartige Geräusche dämpft, mussten die Reiter bereits dicht bei dem Häuschen sein. Runa sah, wie die Amme zusammenzuckte. Doch die in ihren Augen steinalte Frau reagierte unheimlich schnell. Sie konnte die Bewegungen kaum verfolgen. Sie fühlt noch heute, wie diese liebevoll die Hände auf ihren Kopf legte. Dabei murmelte sie die unverständlichen Worte »Muto speciem«. Runa spürte ein feines Kribbeln und die Umgebung wuchs gleichzeitig zu riesigen Ausmaßen heran.

      »Rette dich! Such dir ein Versteck!«, forderte Atropaia hastig, dann barst die Tür mit einem blendend hellen Blitz und lautem Getöse.

      Grimmig blickende Männer drängten in die Wohnstube. Einige hielten lange Messer, andere aber gespannte Bogen in Händen.

      Runa erinnert sich, wie ihr Herz aufgeregt und rasend schnell schlug. Trotzdem meinte sie, die Ereignisse genau verfolgen zu können, nur aus einer anderen Perspektive. Einer der Eindringlinge hatte im ersten Moment ein silbern schimmerndes Netz über Atropaia geworfen. Das Mädchen verstand nicht, was gerade passierte, doch es wollte und musste der Amme helfen.

      »Lasst meine Paia los, ihr Feiglinge«, versuchte sie zu brüllen, vernahm aber lediglich ein feines Piepsen. Sie erstarrte vor Schreck. Was war mit ihrer Stimme geschehen?

      Sie sah, wie ihre Amme vom Sofa zu Boden gerissen, und komplett in das Netz gewickelt wurde. Sie kämpfte verzweifelt, um sich aus den Maschen zu befreien. Durch die heftigen Schwingungen der Sitzfläche wurde Runa von dem Möbel geschleudert und verlor kurzzeitig das Bewusstsein. Sie schüttelte sich, um wieder klar sehen zu können. Zuerst erschienen dem Mädchen seine Bewegungen seltsam langsam, so, als würde es im Traum versuchen, zu laufen, ohne von der Stelle zu kommen. Das Kind wusste nicht, was es gegen die Eindringlinge hätte tun können, doch aufgeben, war keine Option. Es musste Atropaia retten, koste es, was es wolle. Die Amme hatte Runa schließlich liebevoll aufgezogen und verdiente im Gegenzug ihre Unterstützung.

      Einige der Bewaffneten hatten Atropaia inzwischen gefesselt und waren mit ihr schon aus dem Häuschen, bevor das Mädchen ihr beistehen konnte. Sie rannte zum Ausgang, wo die halb herausgerissene Tür schief in den Angeln hing. Doch nicht alle Männer waren nach draußen gegangen. Fünf von ihnen polterten durchs Haus und schlitzten mit den Messern Kissen und die Polsterung des Sofas auf. Sie warfen Schränke um und kletterten sogar in der Küche mit Fackeln in den Kellerraum hinab. Urplötzlich fühlte Runa einen heftigen Stoß gegen die Seite und flog quer durch den Raum. Wie war das möglich? Während sie darüber grübelte, führte die Flugbahn sie an einem Spiegel vorbei. Ein schneller Blick hinein verwirrte das Mädchen noch mehr. Es sah darin eine Haselmaus, die durch die Luft flog. Sollte es das Tierchen sein? Dann war das nicht Realität, sondern ein Traum, hoffte es.

      Wie Runa heute weiß, war es das nicht. Sie landete unsanft auf dem Holzboden und musste immer wieder großen Füßen ausweichen, die sie zu zerquetschen versuchten. Einer der Männer hatte genau das offenbar zu seiner Aufgabe gemacht.

      »Habt ihr das Balg gefunden?«, klang eine befehlsgewohnte Stimme von draußen herein.

      »Nein, Owain. Wir haben alles durchsucht. Bis auf zwei Kaninchen und eine Maus gibt es hier kein Lebewesen.«

      Runa wartete nicht, was der Mann antworten würde. Sie musste versuchen, den Tritten zu entkommen und gleichzeitig Atropaia zu retten. Doch wie sollte sie das schaffen, als Maus gegen schwerbewaffnete Soldaten? Sie schlüpfte zwischen den Füßen hindurch, gelangte durch die Tür und bekam einen weiteren Tritt in die Seite. Dieses Mal flog sie in hohem Bogen in einen der umstehenden Büsche. Die Rippen schmerzten derart heftig, dass sie meinte, sie müssten gebrochen sein. Sie hat bis heute nicht verstanden, weshalb das nicht so war. Sie schüttelte sich trotz der massiven Schmerzen. Sie wollte klar im Kopf werden!

      »Das Kind muss hier sein. Die alte Frau hatte doch keine Zeit, ihre Magie zu nutzen. Das Silbernetz hat das zuverlässig verhindert! Oder habt ihr gesehen, wie sie einen Zauber wirkte? Hm. – Die Kaninchen könnt ihr schlachten, dann haben wir heute Abend einen kleinen Imbiss. Aber sucht und bringt mir die Maus. Die Gestalt ist verdächtig, deshalb nehmen wir das Tierchen mit nach Grimgard. – Sollen doch Creulon oder Drakonia das Rätsel lösen.« Das war erneut die Stimme des Mannes, den sie stolz und herrisch reden hörte. Runa erstarrte kurzzeitig. Konnte sie richtig gehört haben? Trotz ihrer geringen Größe wollte sie ihn attackieren. Was fiel ihm ein, den Befehl zu geben, Puschel zu töten!

      Sie war schnell aus dem Haselgebüsch heraus und konnte Atropaia sehen. Sollte sie versuchen, die Fäden des Netzes durchzubeißen? Runa zögerte nicht lange, sondern rannte los. Ihren Blick richtete sie auf die Frau, die vor den Hufen eines Pferdes auf dem Boden lag. Sie bemerkte, wie ihre Amme sie fixierte und dann erneut etwas murmelte. Verstehen konnte das Mädchen nichts davon. Dieses Mal blieb das feine Kribbeln aber aus. Sie hatte Atropaia fast erreicht, als eines der Pferde ausschlug. Dessen Huf musste sie getroffen haben, denn ab dem Zeitpunkt weiß Runa nicht, was weiter geschehen war.

      Sie hatte das Bewusstsein verloren und erwachte hinter einem anderen Gebüsch auf einem Haufen aus trockenem Laub. Der Pferdtritt hatte sie an dem Tag zum dritten Mal durch die Luft geschleudert. Das Gesträuch wirkte kleiner als das Vorherige. Konnte das alles nur ein Traum gewesen sein?

      Nein, das war es nicht, musste das Mädchen schnell feststellen. Es rannte zum Häuschen und erstarrte beim Anblick des Chaos‘. Die gesamte Inneneinrichtung des Hauses war zertrümmert worden. Es stieg über zerstörte Möbel oder zwängte sich zwischen ihnen hindurch. Doch Atropaia konnte sie nirgends finden. Auch die ängstlichen Rufe blieben unbeantwortet. Dafür bemerkte Runa Blut auf der Türschwelle, sobald sie entmutigt und hoffnungslos wieder nach draußen eilte. Sie bückte sich und entdeckte kleine Flocken von einem weißen Fell, die in die Erde getreten waren. An dieser Stelle waren offenbar Puschel und Trixi, das andere Kaninchen, geschlachtet worden. Mit Tränen in den Augen sank Runa zu Boden. Sie gab sich jedoch nicht lange ihrem Schmerz hin. Sie richtete sich auf, biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Sie schüttelte sie in die Richtung, wohin die Pferdespuren wiesen. Ihr fiel dabei nicht einmal auf, dass sie ihre ursprüngliche Menschengestalt wieder angenommen hatte. Sie wusste nur eines, sie musste Atropaia finden und befreien.

      Wie ihr das gelingen könnte, war unwichtig. Sobald sie die Amme im ersten Schritt gefunden hätte, würde ihr der nächste schon einfallen, überlegte sie mit dem Verstand einer Fünfjährigen. Sie schaute sich nicht zu ihrem bisherigen Heim um, sondern folgte voller Zuversicht der Spur.

      Gegen Abend wurde sie von einem heftigen Unwetter mit Regen heimgesucht. Die Äste der großen Bäume ächzten unheimlich. Manchmal meinte sie, sie würden mit den nach unten fegenden Zweigen versuchen, sie festzuhalten. Mit schrillen Schreien wich sie jedes Mal aus. Obwohl sie unter dem Blätterdach des Waldes zuerst gegen die Wassertropfen geschützt war, wurde das bald anders. Der Wind schüttelte das Nass von den Ästen und immer mehr der schweren Tropfen fielen durch die Blätter hindurch zum Waldboden. Bereits nach kurzer Zeit war sie bis auf die Haut durchnässt. Sie blickte erschrocken zu Boden. Wie lange würde sie die Pferdespuren noch erkennen können? In dieser Richtung war sie erst zweimal durch den Wald gewandert. Da sie dabei