Runas Kopf fährt nach links, als aus einer Seitenstraße lautes Kreischen zu ihr herüberschallt. Sie wendet ihren Blick dorthin. Befindet sich ein Mädchen in Gefahr? So hört es sich jedenfalls an. Ihre suchenden Augen entdecken ein kleineres Kind, das mit von sich gestreckter Hand auf etwas deutet. Das ist der Augenblick, in dem Runa völlig unerwartet ins Straucheln gerät. Hätte sie nach vorn geschaut, wären ihr die ausgestreckten Beine eines Bettlers aufgefallen, der in zerlumpter Kleidung am Straßenrand sitzt. Dessen erboster Ausruf mischt sich mit ihrem kurzen Wehklagen, denn sie ist mit den Knien aufgeschlagen.
»Kannst du nicht aufpassen, wohin du trittst? Dummes Balg!«
Runa reibt sich die Knie. Es sieht nicht so aus, dass sie sich etwas gebrochen hat, und die Haut ist zum Glück auch nicht abgeschürft. Der leichte Schmerz der Prellung wird vermutlich bald vergessen sein.
»Entschuldigung. Ich war abgelenkt.« Sie richtet sich auf. »Kann ich helfen?« Sie hat das erbettelte Geld bemerkt, das um den Almosensammler herum verstreut liegt. Sofort beginnt sie, es aufzulesen.
»Untersteh‘ dich, davon etwas zu behalten!«
Runa blickt zweifelnd zum Bettler. Sie ist überzeugt, die Stimme bereits einmal gehört zu haben. Wie zur Bestätigung kriechen einige Strähnen von kupferroten Haaren unter einem schäbigen Tuch hervor, das um den Kopf geschlungen ist.
Im ersten Moment will sie erbost erwidern: »Wieso sollte ich dir Geld klauen, Katie? Du hast es sicher unter falschem Anschein erbettelt. Oder konntest du ein Kind verkaufen?« Doch das verkneift sie sich. Es ist offensichtlich, die inzwischen junge Frau hat sie nicht wiedererkannt. Da ist es besser, es bleibt so. Anstatt weiterzusuchen, wirft sie Katie die aufgeklaubten Geldstücke in den Schoß.
»Ich könnte genauso gut sagen, du bist selbst schuld! Warum setzt du dich auch an diese Stelle, an der viele Leute vorbeimüssen?«
Der Kopf der Bettlerin ruckt in die Höhe. Sollte sie Runa trotz ihres inzwischen veränderten Äußeren doch erkannt haben? Nein. Es ist vielmehr so, dass sie nicht mit dieser Entgegnung gerechnet hat. Ihre Augen schleudern Blitze, aber sie zögert, sich zu erheben. Dann würde den Umstehenden klar werden, dass ihre lahmen Beine nur vorgetäuscht sind. Stattdessen versucht sie, mit einer der zwei Krücken nach dem Mädchen zu schlagen. Doch das weicht geschickt aus und hebt seelenruhig seinen Korb auf. Dann geht es langsam einige Schritte zurück. Runa beachtet die am Boden Sitzende nicht mehr, sondern läuft in die Straße hinein, aus der das Kreischen erklungen war. Sie hofft, dass ihre Hilfe dort willkommener ist.
Inzwischen stehen drei Knaben neben dem Mädchen, das vorhin so heftig geschrien hat. Sie reden auf das Kind ein, das nur wenige Jahre jünger als Runa zu sein scheint. Ihre geringere Körpergröße deutet jedenfalls darauf hin. Doch es lässt sich offenbar nicht beruhigen.
»Nein, das ist ein Drache. Macht ihn tot!«
»Die gibt es aber nicht!«
»Und wenn, müsste er riesengroß sein.«
»Flügel sind auch nicht zu sehen. – Das kann kein Lindwurm sein.«
»Das ist egal!«, beharrt die Kleine. »Macht ihn tot! Schlagt mit einem Stock drauf.«
Jetzt mischt sich Runa ein. An manchen Abenden hat sie in Büchern gelesen, die sie aus der kleinen Sammlung der Wirtin ausleihen durfte.
»Wenn du meinst, ein Drache wäre mit einem Stock zu erschlagen, dann versuche es nur selbst. Denke aber daran, dass diese Wesen Feuer spucken können. Sollte der Lindwurm deine Absicht bemerken, wird er dir eine Feuersbrunst entgegenschleudern. Falls wir Pech haben, könnte er aus Rache vermutlich anschließend den gesamten Ort zerstören und auch uns töten. Willst du das?«
Weit aufgerissene Augen starren sie an.
»Aber …«, das Kind schluckt heftig, »… ich habe Angst!«
»Das kann ich verstehen. Ich fürchte mich auch manchmal. Besonders dann, wenn ich unerwartet einem gruselig aussehenden Tier begegne. Findest du diese Eidechse denn beängstigend?«
Das Kind nickt heftig.
»Es ist genau genommen eine Zauneidechse«, erklärt einer der Jungen. »Wenn man sie zu fangen versucht und erwischt sie am Schwanz, werfen sie den ab. Das machen sie, um ihr Leben zu retten. Sollte ein Vogel sie dort packen, können sie immer noch fortlaufen.«
Das kleinere Mädchen blickt erstaunt.
»Holt sie sich das Hinterteil später wieder, oder was geschieht damit?«
»Nein, das bleibt für immer ab. Die Eidechse benötigt anschließend viel Energie, um einen neuen Schwanz wachsen zu lassen. Aber das passiert.«
Das Kind hüpft aufgeregt und klatscht in die Hände.
»Dann pack sie am Hinterteil. Aus dem abgeworfenen Ende könnte ich mir eine Brosche anfertigen lassen. Sie glitzert so schön, als wären lauter Edelsteine auf der Haut verteilt.«
Runa fasst es nicht. Das Mädchen fordert aus Angst vor einem ihm unbekannten Wesen andere auf, es zu töten. Und jetzt sieht es darin die Möglichkeit, sich mit dessen Schönheit zu schmücken.
»Das werdet ihr bleiben lassen!«, herrscht sie die Jungen an, die bereits einen Schritt auf den Granitbrocken zu machen, auf dem die Zauneidechse hockt. Sie blitzt sie wütend an und stemmt die Fäuste in die Seiten. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie, wie das kleine Tierchen in ihre Richtung schaut. Sie zuckt zusammen, als gleichzeitig der linke Unterarm warm wird und ihr ein Schauer über den Rücken rieselt. Warum erinnert sie das an Dragon? Dieses Mal greift sie nicht mit ihrer rechten Hand zum anderen Arm. Sie will ihre drohende Haltung nicht aufgeben. Die Jungen haben offenbar nicht damit gerechnet, dass sie sich zum Beschützer des Tierchens aufwirft. Sie murren, scharren mit den Füßen und drehen sich schließlich um. Im Weggehen knurrt einer von ihnen.
»Du willst dir den Schwanz wohl selbst …« Weiter kommt er nicht, denn Runa macht einen schnellen Schritt in seine Richtung. Sofort flüchtet er die Straße entlang, begleitet von den anderen. Das kleinere Mädchen steht immer noch neben dem großen Stein. Dessen Miene wirkt verschmitzt.
»Du willst dich selbst mit diesem glitzernden Teil schmücken, stimmt‘s?« Es plappert die Vermutung des Jungen nach. Es hat nicht erkannt, dass das keinesfalls Runas Absicht ist.
»Hau bloß ab!«, knurrt diese und hockt sich vor den Stein. Sie beobachtet fasziniert, dass sich das Tierchen von der Sonne wärmen lässt. Es bietet den Sonnenstrahlen den gesamten Körper. Sie weiß, dieses kleine Reptil bedarf der Zufuhr von Wärme, da es die nicht selbst erzeugen kann. Um aktiv sein und Beute fangen zu können, benötigt es genügend Beweglichkeit. Und die steigt mit zunehmender Wärmeaufnahme. Runa ist mit ihren Augen auf gleicher Höhe mit der Eidechse. Bei genauerem Betrachten wirkt diese tatsächlich fast wie ein Drache. Jedenfalls so, wie man sich diese Wesen vorstellt. Den Vergleich zu einem echten kann das Mädchen nicht anstellen, es hat noch nie einen gesehen.
Das Tierchen scheint seinerseits Runa genau zu fixieren. Es wendet den Kopf, so dass diese eines der gelblichbraunen Augen betrachten kann. Die dunkel wirkende Pupille ist weit geöffnet. Das Mädchen hat für einen kurzen Augenblick das Gefühl, als würde sie darin hineingesaugt werden. Es erblickt eine rötlichgelbe Flamme, die schneller größer wird.
Bevor das Feuer alles umhüllt, richtet sich Runa erschrocken auf. Die Turmuhr am Markt schlägt. Sie muss sich beeilen, wenn sie noch einigermaßen pünktlich zurück im Gasthaus sein will. Sie blickt kurz zum Granitbrocken zurück, doch die Eidechse ist verschwunden. Ihre plötzliche Bewegung hat das Tierchen offenbar verschreckt.