Nach zwei Stunden vergeblicher Suche kam sie ans Ende des Waldes. Ab hier führte ein schmaler Schotterweg weiter. Die dunklen Wolken wurden vom Wind fortgeblasen. Im hellen Mondlicht konnte sie keine Abdrücke der Pferdehufe entdecken. Runa war dem Verzweifeln nahe. Sollte sie Atropaia jetzt noch finden können? Sie hoffte, bisher keinen Richtungswechsel der Reiter verpasst zu haben. Die Straße würde dagegen sicher schon bald zu einem Abzweig führen, eventuell sogar zu einer Kreuzung! Wie könnte sie dort erkennen, welche der möglichen Richtungen die richtige wäre. Runa wusste, das würde sie vor eine wichtige Entscheidung stellen.
Sie zuckte mit den Schultern. Sie konnte das nicht ändern und musste auf das Beste hoffen. Bis es so weit war, hätte sie die Reiter möglicherweise eingeholt. Das hoffte sie inständig, obwohl sie auch nach einer Stunde keine Hufabdrücke auf dem harten Untergrund erkennen konnte.
Runa weiß genau, wie zuversichtlich sie zu dem Zeitpunkt war, als schließlich der Morgen graute und eine wärmende Sonne in den hellblauen Himmel aufstieg. Ihr Bauch knurrte vor Hunger und sie vermochte kaum noch zu laufen. Die Füße waren inzwischen wund und zu Essen hatte sie nichts mitgenommen. Sie hatte sich nicht getraut, Zeit mit der Suche nach Essbarem zu vergeuden und deshalb lediglich etwas Wasser aus einem kleinen Bachlauf getrunken. Der hatte ihren Weg am Rande des Waldes gekreuzt.
Als der Pfad auf eine abknickende Straße stieß, entschied sich Runa, geradeaus auf der nun breiteren Straße weiterzulaufen. Spuren der Pferde waren nirgends zu erkennen, also meinte sie, besser die bisherige Richtung beizubehalten. Zwei weitere Stunden vergingen, in denen die Schritte des Mädchens immer kürzer und langsamer wurden. Runa verspürte neuen Antrieb, sobald sie von weitem eine Ortschaft erkennen konnte. Der von windzerzausten Büschen gesäumte Weg schlängelte sich eine kleine Anhöhe hinab. Sie wollte losrennen, um dort endlich die Reiter einzuholen. Was sie zustande brachte, war inzwischen nur noch ein Stolpern. Sie zwang sich aber mit eisernem Willen, weiterzugehen. Sie konnte jetzt keine Pause einlegen. Vielleicht vergab sie damit die letzte Chance, ihre Amme wiederzufinden.
Doch bevor sie den Ort Homarket erreichte, wurde sie von einer zerlumpten Bande gefangen genommen, die sie, wie aus dem Nichts, plötzlich umringte. Die Gruppe bestand aus vier Jugendlichen, zwei Jungen und zwei Mädchen, die davon lebten, Reisende auszurauben. So geschwächt wie Runa war, konnte sie weder weglaufen noch Widerstand leisten. Trotzdem schien sie Glück zu haben. Mit fünf Jahren war sie mehr als halb so jung, wie die, die sie auf den Boden geworfen hatten. Deshalb passten das Oberteil und die Hose keinem von ihnen und wurden ihr nicht genommen. Sie trug zwar nur einfache Kleidungsstücke, aber diese waren sauber und nicht geflickt.
»Bei der Göre ist nichts zu holen«, stellte der Junge fest, nachdem Runa durchsucht worden war. Er war offenbar der Anführer der Bande. »Sie besitzt weder Geld noch Schmuck. Lasst sie laufen.«
»Kommt nicht infrage!«, widersprach eine Rothaarige. Die Augen in ihrem recht hübschen Gesicht glänzten. »Wir könnten sie mit in den nächsten Ort nehmen, um dort einige Kupferstücke, möglicherweise sogar Silber herauszuschlagen. – Sie sieht mir ähnlich, oder etwa nicht?« Die anderen brummelten lediglich als Antwort. Nicht so der Anführer.
»Welche Gedanken ziehen durch deinen schönen Kopf, Katie? Du hast eine Idee, wie wir doch noch etwas Gewinn herausschlagen können, stimmt’s? – Und wenn ich mir das Kind genau anschaue, hast du nicht Unrecht. Die rotblonden Haare sprechen fast für sich. – Ja, ich bin sicher, es ist dein Schwesterchen!«
»Richtig, aber von meinem Plan muss die Kleine ja nichts wissen. Sie sträubt sich sonst mehr als nötig.« Das rothaarige Mädchen und der schwarz gelockte Junge traten etwas zur Seite und tuschelten miteinander. Runa glaubte, sich verhört zu haben. Weshalb sollte es wichtig sein, dass sie mit Katie verwandt ist. Und was hatte das damit zu tun, dass sie »verkaufen« gehört zu haben meinte? Menschenkinder werden doch nicht verkauft, oder bezog sich das vielleicht auf ihre Kleidung?
Wie sie heute und im Nachhinein weiß, hatte diese Bande von Wegelagerern tatsächlich vor, sie als Dienerin in dem Örtchen an eine reiche Familie zu verschachern.
Der Weg in den kleinen Ort dauerte länger als von den Strauchdieben erwartet. Die Füße des Mädchens waren derart wund gescheuert, dass es sich kaum noch zu bewegen traute. Zuerst trieb Katie es mit Schlägen weiter, bis es sich vor Schmerz auf den Boden setzte und die Prügel unter Tränen ertrug. Immer zwei von den Jugendlichen bildeten daraufhin abwechselnd mit ihren ineinander verschränkten Händen einen Sitz, auf den sich Runa setzen musste. Auch wenn das nicht aus Mitgefühl geschah, war sie den Vieren dankbar. Deren Absicht war lediglich, schneller von der Straße zu verschwinden. Je länger sie sich dort aufhielten, desto eher liefen sie Gefahr, als Landstreicher festgenommen zu werden.
Der Mittag war nahe, als sie die ersten Häuser erreichten. Die Wege füllten sich mit Menschen, die fragend zu den Jugendlichen blickten. Doch keiner traute sich, die zerlumpte Bande aufzuhalten. Denen erschien es offenbar zu gewagt, mit ihrer menschlichen Ware durch Homarket zu wandern und sie an verschiedenen Stellen anzubieten. Deshalb versuchten sie ihr Glück in dem ersten großen Haus auf dieser Seite des Örtchens. Das ist das Wirtshaus »Fuchs und Gans« gewesen. Der Anführer der Bande klopfte an und betrat zusammen mit Katie, die Runa hinter sich herzog, den Gastraum. Durch das Klingeln eines Glöckchens an der Tür wurde die Wirtin auf den Besuch aufmerksam. Es war bald Mittagszeit und sie hatte soeben erst den Riegel zurückgezogen.
»Wen haben wir denn da? Drei junge Menschlein! Was macht ihr in meinem Wirtshaus?« Sie blickte nicht abweisend, eher vorsichtig.
»Wir wollen nichts von eurem sicher köstlichen Bier«, begann der Junge. »Aber wir möchten euch ein Geschäft vorschlagen.«
»Ich kann mir vorstellen, dass hier oft viel zu tun ist«, fuhr Katie gekonnt fort. »Wäre es da nicht angebracht, eine zuverlässige Hilfskraft zu haben?« Sie blickte die Wirtin fragend an und deutete dann auf Runa. Die hatte sich bisher zu wehren versucht und erstarrte augenblicklich, als sie das hörte. Sie vermutete, »verkaufen« könnte sich tatsächlich auf sie beziehen! Um die Kleidungsstücke ging es jedenfalls nicht! Die Wirtsfrau kam hinter dem Tresen hervor und schlug sich das Tuch über die Schulter, mit dem sie bis soeben die Platte saubergewischt hatte. Sie stemmte beide Fäuste in die Seiten und blickte wirklich grimmig.
»Ich weiß nicht, worauf ihr hinauswollt. Ich beschäftige eine Köchin, die fürs Essen zuständig ist. Und hier im Gastraum gibt es bereits genug Helfer. – Es ist hoffentlich nicht das, was ich vermute!«
Sofort war Katie verunsichert.
»Es könnte sein, dass wir uns missverständlich ausgedrückt haben. Wir wissen natürlich, was die Gesetzestexte in Merion sagen. – Verschiedenster Handel ist erlaubt, aber Menschenhandel wird mit vielen Jahren Haft im Verlies bestraft.«
»Richtig!«, sprang ihr der Junge bei. »Doch darum geht es nicht. Wir stammen wie unsere kleine Schwester aus Elduria. Dort sind derartige Gesetze unbekannt.«
»Wir befinden uns aber nicht in eurem Landesteil. Für jeden, der sich hier aufhält, gelten diese Vorschriften. Also auch für euch.«
»Wir verstehen uns immer noch nicht richtig«, begann Katie mit zitternder Stimme. Sie fürchtete