In diesem Moment erinnerte er sich an die Verpflichtung, die er übernommen hatte, und holte mit seiner freien Hand einen Tiefkühlbeutel aus einer der Taschen seiner blutbefleckten Outdoorweste. Er entnahm dem Beutel den kleinen Gegenstand, der sich darin befand, und steckte ihn in die linke Socke der Leiche, wo er nicht vom Blut befleckt werden konnte, das dem Toten über die Brust gelaufen und sein Hemd durchtränkt hatte. Nachdem er den Klarsichtbeutel zusammengeknüllt und wieder eingesteckt hatte, wandte er sich erneut an seinen Hund: »Was meinst du, Hannibal? Wollen wir uns nach dem miserablen Wirtshausfraß heute Nacht noch ein Stück gebratene Niere gönnen?«
Der Yorkshire Terrier bellte und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.
»Gut. Dann werde ich mich mal ans Werk machen.«
Der dicke Mann ging laut ächzend neben der Leiche in die Knie und machte sich dann fachmännisch mit dem Fleischmesser an die Arbeit.
ERSTER TEIL
DER LEBENDE TOTE
Kapitel 4
Das Haus sah aus wie eine Baustelle.
Die Mitarbeiter der Fensterfirma hatten im Laufe des Tages sämtliche alten Holzfenster im Obergeschoss und sogar schon einen kleinen Teil im Erdgeschoss ausgebaut und durch neue hochmoderne, energiesparende Kunststofffenster ersetzt. Der Rest der Arbeiten – die Fenster im Wohnzimmer, im Esszimmer und im Gäste-WC – sollte dann am darauffolgenden Tag durchgeführt werden.
Und da Anja Spangenberg schon mal dabei war, das Häuschen zu renovieren, das sie von ihrem verstorbenen Ehemann Fabian geerbt hatte, hatte sie sich spontan dazu entschlossen, eine neue Küche einbauen zu lassen und die Innenwände zu streichen.
Die alte Küche war ebenfalls an diesem Tag abgebaut und abtransportiert worden. Sie war mindestens fünfunddreißig Jahre alt und noch von Fabians Großeltern angeschafft worden, denen das Haus einst gehört hatte, bevor es nach ihrem Tod an den einzigen Enkel gegangen war. Wenn alles wie geplant klappte, was sie inständig hoffte, erwartete sie am kommenden Tag den Fliesenleger, um die alten, im Laufe der Jahre unansehnlich gewordenen braunen Fliesen zu entfernen, die anschließend durch eine moderne Küchenrückwand aus Acryl ersetzt wurden. Außerdem musste der Elektriker die Stromleitungen überprüfen und gegebenenfalls neue verlegen, während der Klempner die Überprüfung und eventuelle Erneuerung der vorhandenen Wasseranschlüsse durchführen sollte. Das Anstreichen der Wände übernahm Anja anschließend selbst, bevor dann endlich die neue Küche eingebaut werden konnte.
Sie hatte vor, nach und nach sämtlichen Innenwänden einen neuen Anstrich zu verpassen, was ihrer Ansicht nach ebenfalls längst überfällig war. Mit dem Arbeitszimmer hatte sie am heutigen Tag den Anfang gemacht. Sie wollte es bei der Gelegenheit auch neu einrichten, um nicht ständig, sobald sie den Raum betrat, daran erinnert zu werden, dass sie an diesem Ort den Leichnam ihres Mannes gefunden hatte.
Anja seufzte. Sie verdrängte die schmerzhaften Erinnerungen an ihren ermordeten Ehemann und die Bilder, die diese unwillkürlich mit sich brachten, und besann sich stattdessen wieder auf das Hier und Jetzt.
Die Handwerker hatten ihre Arbeit für heute bereits beendet und waren gegangen. Sie war daher allein im Haus, denn nicht einmal ihr Mitbewohner Yin war da. Als am frühen Morgen die Invasion der Arbeiter eingesetzt hatte und kurz danach lautes Bohren und Hämmern durchs Haus geschallt war, hatte der schwarze Kater vor dem Lärm und dem Aufruhr die Flucht ergriffen und das Haus verlassen. Seitdem war er nicht mehr zurückgekehrt. Aber vermutlich würde ihn der Hunger alsbald wieder in sein Zuhause zurückführen. Vor allem, nachdem nun fürs Erste wieder Ruhe eingekehrt war.
Anja hatte für den heutigen Tag ebenfalls Feierabend gemacht. Sie musste morgen nur noch die Fensterseite streichen, die sie wegen der Erneuerung des Fensters heute ausgelassen hatte, dann wäre sie zumindest schon mal mit dem Arbeitszimmer fertig. Sie erledigte das Malern aber nicht nur deshalb selbst, um Geld zu sparen. Bei den Unsummen, die allein die neuen Fenster und die Küche kosteten, käme es auf das Geld für einen professionellen Maler ihrer Meinung nach auch nicht mehr an. Sie tat es, weil sie momentan zu viel Zeit hatte und ihr ansonsten sterbenslangweilig wäre.
Nach dem Tod des Mordermittlers Anton Krieger, der aller Voraussicht nach von demselben Mann ermordet worden war, der auch schon ihren Vater, ihren Ehemann und zahlreiche andere Menschen auf dem Gewissen hatte und den sie den Widersacher nannte, war Anja nichts anderes übriggeblieben, als ihren unmittelbaren Dienstvorgesetzten bei der Vermisstenstelle der Kripo München, Kriminalrat Alexander Zumbruch, über all die Dinge in Kenntnis zu setzen, die sie bislang beharrlich verschwiegen hatte, um selbst gegen ihren Widersacher ermitteln zu können. Da sie dadurch nach Meinung ihrer Vorgesetzten die offiziellen Ermittlungen behindert hatte, was schlussendlich auch zum tragischen Tod des Kollegen von der Mordkommission geführt hatte, war wegen des Verdachts eines schwerwiegenden Dienstvergehens ein Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet worden. Gleichzeitig war sie vorläufig ihres Dienstes enthoben und angeordnet worden, dass fünfundzwanzig Prozent ihrer Dienstbezüge einbehalten wurden.
Zum Glück war sie auf das Geld nicht angewiesen. Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes nicht nur dieses Haus, sondern auch sein Vermögen geerbt. Außerdem hatte Fabian, ohne dass sie davon wusste, ein paar Jahre vor seinem Tod eine Risikolebensversicherung abgeschlossen, deren Begünstigte sie gewesen war. Sie litt also zumindest keine materielle Not.
Schwerer wog die Suspendierung. Anja war mit Leib und Seele Ermittlerin in der Vermisstenstelle, deshalb fehlte ihr die Arbeit auch sehr. Um sich gegen die drohende Beendigung des Beamtenverhältnisses zur Wehr zu setzen, hatte sie sich einen Anwalt genommen. Doch der hatte ihr aufgrund ihrer Vergehen bislang nur wenig Hoffnung machen können, dass das Disziplinarverfahren zu ihren Gunsten ausgehen könnte.
Anja seufzte erneut. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, bevor sie sich umdrehte und das Arbeitszimmer verließ. Sie hatte bereits die Farbroller und Pinsel gereinigt und den Farbeimer sorgfältig verschlossen. Außerdem hatte sie die alten Klamotten, die sie beim Malern getragen hatte, ausgezogen, sich Gesicht und Hände gewaschen und war in ihre Joggingsachen geschlüpft. Sie wollte nicht herumhocken, Däumchen drehen und darauf warten, dass Yin endlich nach Hause kam, sondern verspürte den Drang, sich zu bewegen. Deshalb hatte sie beschlossen, im Westpark ein paar Runden zu drehen. Ihre Armmuskeln schmerzten zwar von der ungewohnten Malertätigkeit am heutigen Tag – vor allem das Streichen der Decke war in die Arme gegangen –, aber schließlich lief sie nicht mit den Armen, sondern mit den Beinen. Die Schmerzen taugten daher ihrer Meinung nach nicht als Entschuldigung.
Da die Küche momentan unbenutzbar war, hatte sie in einer Ecke des Esszimmers eine kleine Ersatzküche eingerichtet. Dort stand ein kleiner Kühlschrank, der die Ausmaße einer Minibar in einem Hotelzimmer hatte. Daneben ein Tisch mit einer Doppelkochplatte und ihrer Kaffeemaschine. Vor allem auf Letztere konnte und wollte sie auf keinen Fall verzichten. Außerdem standen hier auch Yins Näpfe. Da sie nicht warten wollte, bis das Tier sich endlich dazu bequemte, nach Hause zu kommen, füllte sie einen der Näpfe im Bad mit Wasser und einen zweiten mit Katzenfutter aus der Dose. So musste der Kater wenigstens nicht hungern, wenn er während ihrer Abwesenheit nach Hause kam.
Danach verließ sie das Haus umgehend, schloss die Tür hinter sich und sperrte gewissenhaft ab.
Nur wenige Schritte von der Tür entfernt stand ein Gestell mit den restlichen Fenstern, die am nächsten Tag eingebaut werden sollten. Unmittelbar daneben befand sich ein Bauschuttcontainer, in den die Arbeiter die alten Fenster und den entstandenen Schutt geworfen hatten.
Anja ging darum herum und an ihrem weißen MINI Cooper vorbei, der vor der geschlossenen Garage stand, die vom Porsche ihres verstorbenen Mannes in Beschlag genommen wurde. Kaum hatte sie den Wagen passiert, bog ein dunkelblauer BMW in ihre Einfahrt. Anja blieb stehen und sah dem Fahrzeug teils neugierig, teils argwöhnisch entgegen. Sie kannte das Auto nicht, und außerdem erwartete sie ohnehin keinen Besuch.