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eilig hatte, in die Dienststelle zu kommen, verabschiedeten sie sich daraufhin voneinander und beendeten das Gespräch.

      KAPITEL 8

      I

      Als sie ins Büro zurückkehrte, saß Daniel Braun wieder hinter seinem Schreibtisch. Er begrüßte sie lächelnd, konnte es sich aber nicht verkneifen, einen demonstrativen Blick auf die Uhr zu werfen, um zu verdeutlichen, dass sie fünf Minuten zu spät aus ihrer Mittagspause kam. Da er regelmäßig zu spät kam, macht es ihm besonders viel Spaß, sie zu ärgern, wenn sie sich ausnahmsweise verspätete.

      Leck mich, Braun!, hätte sie am liebsten gesagt, verkniff es sich aber. Eigentlich kamen sie ganz gut miteinander aus. Anja schätzte an ihm vor allem, dass er sie nicht die ganze Zeit vollquatschte oder mit Fragen nach ihrem Privatleben löcherte, denn das konnte sie überhaupt nicht leiden. Sie hätte es bei ihrem Zimmerkollegen also auch schlechter treffen können. Deshalb wollte sie ihn nicht gegen sich aufbringen, was nur die Atmosphäre vergiftet hätte; und darunter hätten sie beide zu leiden.

      Braun redete nicht, sondern widmete sich wieder der Akte, die er bei ihrem Kommen bearbeitet hatte. Entweder war er eingeschnappt, weil sie am Vormittag so kurz angebunden und einsilbig gewesen war, oder er hatte selbst im Augenblick keine Lust zum Reden, was bei ihm ebenfalls häufig vorkam und ihn in ihren Augen noch sympathischer machte.

      Auch Anja schwieg und widmete sich dem Inhalt der ersten der beiden Akten, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Obwohl sie die darin enthaltenen Dokumente in den letzten zehn Wochen bereits unzählige Male aufmerksam studiert hatte und beinahe schon auswendig kannte, hoffte sie wider besseren Wissens, dass sie dieses Mal im Licht ihrer neu gewonnenen Erkenntnisse auf etwas stieß, das sie all die Male zuvor übersehen hatte. Allerdings enthielt die Akte nur ein paar magere Blätter; daher hatte Anja auch wenig Hoffnung, sie könnte etwas entdecken, das sie bislang noch nicht gesehen hatte.

      Es handelte sich dabei um eine Kopie der Akte der Todesermittler, die vor dreiundzwanzig Jahren den vorgeblichen Selbstmord ihres Vaters untersucht hatten.

      Die Todesermittler vom K12 werden immer dann gerufen, wenn nach einem Leichenfund eine nicht natürliche oder zumindest eine ungeklärte Todesursache festgestellt wurde. Ihre Aufgabe ist es, den Leichnam, die Lebensumstände der verstorbenen Person und die näheren Todesumstände zu untersuchen und zu ermitteln, ob bei dem Todesfall ein Fremdverschulden definitiv ausgeschlossen werden kann. Ist das nicht der Fall, geben sie den Leichnam auch nicht frei, sondern regen stattdessen an, eine Obduktion durchzuführen. Kommen sie im Laufe ihrer Ermittlungen zu dem Ergebnis, dass ein Mord vorliegt, übergeben sie den Fall an die Mordkommission.

      Anja hatte vor zweieinhalb Monaten im Archiv Einsicht in die Akte genommen und sich Kopien der wichtigsten Dokumente angefertigt. Allerdings hatte sie bei der Gelegenheit bewusst darauf verzichtet, sich auch die Fotos im Anhang anzusehen, auf denen die Leiche ihres Vaters zu sehen war. Als sie ihn damals gefunden hatte, hatte sich sein Anblick unauslöschlich in ihre Erinnerung eingebrannt, sodass er ihr bis heute in allen Einzelheiten gegenwärtig war. Außerdem hatte sie seit damals immer wieder davon geträumt. Und sie besaß jetzt natürlich das Polaroidfoto, das der Mörder ihr geschickt hatte und das ihren Vater unmittelbar vor seinem Tod zeigte. Es steckte im hinteren Teil des Dossiers in einer Klarsichthülle.

      Ansonsten enthielt die dünne Akte lediglich den Obduktionsbericht des Pathologen und den sogenannten Ablebensbericht eines der beiden Todesermittler, die für den Fall zuständig gewesen waren. Sowohl der Rechtsmediziner als auch der Ermittler waren zu dem Ergebnis gekommen, dass es keinerlei Hinweise für ein Fremdverschulden gegeben und der Verstorbene seinem Leben selbsttätig und eigenverantwortlich ein Ende gesetzt hatte.

      Anja seufzte missmutig. Das alles wusste sie bereits und brachte sie keinen Schritt weiter.

      Braun sah auf und warf ihr einen fragenden Blick zu. Doch Anja tat, als wäre sie so sehr in die Akte vertieft, dass sie es nicht bemerkte. Nach wenigen Augenblicken senkte er den Blick und widmete sich wieder seiner Arbeit.

      Anja nahm einen Notizzettel und notierte sich die Namen der beiden Todesermittler und des Gerichtsmediziners. Sie hatte vor, die drei Männer zu befragen. Vielleicht, so ihre Hoffnung, erinnerten sie sich an ein Detail, das keinen Eingang in die offizielle Akte gefunden hatte, weil sie es damals für unwichtig gehalten hatten und ohnehin davon überzeugt gewesen waren, dass es sich um einen Suizid gehandelt hatte.

      Anschließend schloss Anja die dünne Mappe und schob sie unter die zweite, die im Gegensatz dazu erheblich umfangreicher war.

      Auch dabei handelte es sich um Kopien der wichtigsten Dokumente einer Ermittlungsakte. Allerdings ging es darin nicht um den Tod eines einzelnen Menschen, sondern um das bis heute ungeklärte spurlose Verschwinden von drei jungen Mädchen vor dreiundzwanzig Jahren.

      II

      Die Erste, die damals verschwand, hieß Melanie Brunner. Das Mädchen mit den auffallend langen dunkelbraunen Haaren hatte erst vor wenigen Wochen seinen zwölften Geburtstag gefeiert. Es lebte mit seinen Eltern und den beiden jüngeren Geschwistern im Münchner Stadtteil Pasing und besuchte dort das städtische Bertolt-Brecht-Gymnasium für Mädchen.

      Am Tag ihres Verschwindens fuhren Melanie und zwei Schulfreundinnen nachmittags mit der S-Bahn zum Marienplatz. Sie wollten in der Innenstadt durch die Modeboutiquen bummeln und Klamotten kaufen. Drei Stunden später kehrten sie zurück und trennten sich unweit des Bahnhofs München-Pasing, weil Melanie einen anderen Nachhauseweg als ihre Freundinnen hatte. Doch im Gegensatz zu den beiden anderen Mädchen kam Melanie nie zu Hause an. Obwohl sie nur einen knappen halben Kilometer zurückzulegen hatte, um zu ihrem Elternhaus zu kommen, verschwand sie dennoch auf dem Weg dorthin, ohne auch nur eine einzige Spur zu hinterlassen, die Aufschluss darüber gab, was ihr widerfahren war. Und kein Mensch hatte sie nach der Trennung von ihren Freundinnen auf dem kurzen Nachhauseweg gesehen oder an diesem Tag sonst etwas Ungewöhnliches bemerkt.

      Eine Vermisstenfahndung wird in der Regel erst dann eingeleitet, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens hat die vermisste Person ihren gewohnten Lebensbereich verlassen. Zweitens ist ihr derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt. Und drittens muss davon ausgegangen werden, dass eine Gefahr für ihren Leib oder ihr Leben besteht, weil sie möglicherweise Opfer einer Straftat oder eines Unfalls wurde, sie hilflos ist oder gar die Absicht hegt, sich selbst etwas anzutun. Die letzte Voraussetzung gilt allerdings nur für vermisste Erwachsene. Sie haben, sofern sie im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, das Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu bestimmen, ohne Angehörige oder Freunde darüber informieren zu müssen. Minderjährige dürfen hingegen ihren Aufenthaltsort nicht frei wählen. Haben sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen und ist ihr Aufenthalt unbekannt, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sie in Gefahr sind. Dabei gilt vor allem: je jünger das Kind, desto größer auch die Gefahr. Minderjährige werden daher sofort als vermisst angesehen.

      Zur Entgegennahme von Anzeigen über vermisste Personen und zur Einleitung von Sofortmaßnahmen ist grundsätzlich jeder Polizeibeamte verpflichtet. Zuständig für die Bearbeitung des Vermisstenfalls ist zunächst die Polizeidienststelle, in deren Bereich sich der letzte Aufenthalts- oder Wohnort der vermissten Person befindet. Werden Kinder vermisst oder stoßen die örtlichen Dienststellen an ihre Grenzen, wird das zuständige Fachkommissariat, die sogenannte Vermisstenstelle, eingeschaltet.

      Die ermittelnden Beamten vom K14 müssen dann alle Maßnahmen treffen, die zur Feststellung des Verbleibs der vermissten Person führen können. Außerdem klären sie nach Möglichkeit die Ursachen und näheren Umstände des Verschwindens und stellen fest, ob die vermisste Person möglicherweise Opfer einer Straftat, eines Suizids oder eines Unfalls wurde.

      Der Fall der zwölfjährigen Melanie Brunner landete daher schon kurz nach ihrem Verschwinden auf dem Schreibtisch von Kriminalhauptkommissar Frank Kramer, der den Ernst der Lage augenblicklich erkannte, der sich vor allem aufgrund des Alters des Mädchens ergab. Er leitete deshalb umgehend die gesamte Palette an Fahndungsmaßnahmen ein, die ihm in diesem frühen Stadium der Ermittlungen zur Verfügung standen.

      So befragte er