IM ANFANG WAR DER TOD. Eberhard Weidner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eberhard Weidner
Издательство: Bookwire
Серия: Anja Spangenberg
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214316
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befragt werden. Höchstens mithilfe einer spiritistischen Sitzung, dachte Anja sarkastisch. Noch war sie aber nicht so verzweifelt, dass sie zu derartigen Mitteln greifen musste. Es genügte ihr ohnehin, wenn zumindest einer der beiden Todesermittler ihre Fragen beantwortete.

      Hans Baumgartner, der Freund und Kollege ihres Vaters aus der Vermisstenstelle, war ebenfalls aus dem Dienst ausgeschieden. Allerdings schon vor dreiundzwanzig Jahren, unmittelbar nachdem Sabine Schwarzmüller die Leitung der Soko übernommen hatte. Dabei war er damals gerade einmal siebenunddreißig Jahre alt gewesen. Allerdings konnte Angelina aus den Computerdaten, auf die sie Zugriff hatte, nicht ersehen, aus welchem Grund er aufgehört hatte, sodass Anja auf Spekulationen angewiesen war.

      Hatte er wegen der Erfolglosigkeit der Soko oder seiner Absetzung als Leiter alles hingeschmissen? Oder hatte ihn der Suizid des befreundeten Kollegen zu diesem Schritt bewogen? Vielleicht hatte er sich auch selbst eine Mitschuld daran gegeben und war daran zerbrochen. Anja wollte ohnehin mit ihm sprechen. Bei der Gelegenheit würde sie vermutlich auch herausfinden, warum er damals aus dem Dienst ausgeschieden war. Allerdings würde sie ihn ebenso wie ihre Mutter erst dann darüber aufklären, dass ihr Vater ermordet worden war, wenn sie den Täter gefunden und unschädlich gemacht hatte.

      Da Angelina inzwischen in ihrem Computer die Daten von Sabine Schwarzmüller aufgestöbert hatte, die Baumgartner an der Spitze der Sonderkommission abgelöst hatte, konzentrierte sich Anja wieder darauf, ihrer Bekannten zuzuhören. Demnach war Schwarzmüller vor achtzehn Jahren zum Kriminalpräsidium Oberpfalz nach Regensburg gewechselt und hatte scheinbar dort Karriere gemacht.

      Als Letztes kam der Rechtsmediziner. Doch der war schon damals kurz vor der Pensionierung gestanden und fünf Jahre später gestorben.

      Anja bedankte sich und schlug vor, dass sie demnächst auf ihre Kosten zum Essen gehen sollten. Dann verabschiedeten sie sich voneinander.

      Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, saß Anja ein paar Minuten regungslos da, starrte blicklos auf den Notizzettel mit den fünf Namen, die sie, soweit vorhanden, mit den jetzigen Adressen der Personen ergänzt hatte, und dachte nach.

      Sie hatte auf jeden Fall vor, mit Baumgartner und Klein zu reden. Mit Ersterem natürlich über die seit dreiundzwanzig Jahren vermissten Mädchen und die damaligen Ermittlungen der Soko. Unter Umständen gab es Spuren und Hinweise, die keinen Eingang in die Akten gefunden, ihren Vater jedoch auf die Spur des Täters gebracht hatten. Klein wollte sie hingegen zum Tod ihres Vaters befragen.

      Als Anja einen Blick auf ihre Uhr warf, sah sie, dass sie noch genügend Zeit zur Verfügung hätte, um zumindest einen der beiden Männer aufzusuchen und zu befragen. Doch sie verschob es lieber auf den morgigen Tag. Sie seufzte. Nachdem sie vor zweieinhalb Monaten die beiden Akten kopiert hatte, hatte sie ihre Ermittlungen in diesen beiden Angelegenheiten, die ihrer Meinung nach in unmittelbarem Zusammenhang stehen mussten, immer wieder hinausgeschoben. Vor allem, nachdem sich der Mörder ihres Vaters nicht mehr gemeldet hatte. Im Nachhinein kam es ihr nun beinahe so vor, als scheute sie noch immer davor zurück. Aber wieso? Hatte sie Angst, dadurch schlafende Hunde zu wecken?

      Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie die Antworten auf diese Fragen nicht wusste. Allerdings fasste sie den festen Vorsatz, morgen endlich damit anzufangen, die Hintergründe dieser alten Fälle aufzudecken.

      Versprochen!

      Nachdem sie diesen Entschluss gefasst und bekräftigt hatte, legte sie die Akten beiseite und widmete sich bis zum Feierabend wieder ihrer eigentlichen Arbeit, für die sie bezahlt wurde.

      KAPITEL 9

      I

      Als Anja um fünf vor sieben das italienische Restaurant in der Ehrwalder Straße im Stadtteil Sendling-Westpark betrat, war ihre Mutter bereits da. Sie saß allein an einem Tisch für sechs Personen, den sie reserviert hatte. Nachdem Anja ihren Mantel ausgezogen und aufgehängt hatte, begrüßten sie sich. Dann nahm Anja neben Dagmar Platz. Sie saß ungern mit dem Rücken zur Eingangstür; mit der Wand hinter sich fühlte sie sich wohler. Außerdem konnte sie so alles beobachten, was im Lokal vor sich ging.

      Da sie Durst hatte, bestellte sie ein großes Glas Mineralwasser. Es fiel ihr, wie schon in den letzten neun Monaten, nicht schwer, bei derartigen Anlässen auf Alkohol zu verzichten. Deshalb erschien ihr der gestrige Rückfall umso rätselhafter.

      Dagmar und Anja unterhielten sich über belanglose Dinge. Sie ließen dabei allerdings Themen komplett außen vor, die zu Kontroversen führen konnten. Beispielsweise Anjas Liebesleben oder ihre Arbeit als Polizistin, die ihrer Mutter schon immer ein Dorn im Auge gewesen war. Sie wollten die gute Stimmung nicht trüben, die momentan zwischen ihnen herrschte.

      Anjas Mutter war mittlerweile 56 Jahre alt, hatte aber noch immer ein glattes und faltenloses Gesicht. Allerdings schaute sie seit dem frühen Tod ihres ersten Mannes stets etwas verbissen und humorlos drein. Sie tönte ihr hellbraunes Haar, da sich Jahr um Jahr immer mehr graue Haare darin zeigten. Dagmar Fröhlich war zwar einen halben Kopf kleiner als Anja, aber ebenso schlank. Darüber hinaus gab es zwischen Mutter und Tochter eine große Ähnlichkeit in den Gesichtszügen, der Form und dem Schnitt der Gesichter sowie der Farbe der Augen.

      Wenige Minuten nach sieben öffnete sich die Tür, und drei Leute betraten das Restaurant.

      Auch wenn Anja nicht mit ihrem Kommen gerechnet hätte, hätte der Anblick des älteren Mannes, der die kleine Gruppe anführte, ihr sofort verdeutlicht, wen sie vor sich hatte. Denn er sah aus wie eine gealterte Version ihres Vaters.

      Als Anja bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte und ihr dabei der Mund vor Staunen offenstand, schloss sie ihn rasch. Allerdings konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden, sondern musste ihn weiterhin ansehen, als würde er ihren Blick magnetisch anziehen.

      Sie hatte ganz vergessen, wie ähnlich sich die beiden Brüder schon damals gesehen hatten. Und diese Ähnlichkeit sorgte nun dafür, dass ihr ein Schauder über den Rücken lief. Sie hatte das Gefühl, sie würde träumen. Und in diesem Traum war ihr Vater gar nicht tot, sondern am Leben und kam in diesem Augenblick lächelnd auf sie zu. Doch dann realisierte Anja, dass es kein Traum und ihr Vater seit vielen Jahren tot war. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schock und mit einer Intensität, als wäre ihr Vater soeben zum zweiten Mal gestorben.

      »Hallo Anja«, sagte der Mann, der inzwischen unmittelbar vor ihr stand und ihr die rechte Hand darbot.

      Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie aufgestanden war, und starrte ihn noch immer an, als wäre er ein Gespenst.

      Als sie keine Anstalten machte, seine Hand zu ergreifen, oder weil sich ihre heftigen Gefühle wahrscheinlich auf ihrem Gesicht abzeichneten, machte er ein besorgtes Gesicht und fragte: »Alles in Ordnung mit dir?«

      Anja schwankte leicht, als ein heftiges Schwindelgefühl sie überkam. Doch es legte sich sofort wieder, und sie beschloss, sich gefälligst zusammenzureißen. Ihr Vater war mittlerweile seit mehr als der Hälfte ihres Lebens tot, und daran würde sich auch nie etwas ändern. Und der Mann, der ihm so verdammt ähnlich sah und nun erwartungsvoll vor ihr stand, hatte ihn möglicherweise ermordet.

      »Ja«, sagte sie daher und nickte zur Bekräftigung heftig. »Mir geht’s gut. Es ist nur …« Sie schüttelte den Kopf. »Diese Ähnlichkeit …«

      Christian nickte mit ernster Miene. »Frank und ich sahen uns schon immer sehr ähnlich. Und das, obwohl er fünf Jahre älter war als ich. Als wir noch Kinder waren, war er natürlich größer als ich. Aber später, als wir beide erwachsen waren, hielten uns manche Leute sogar für Zwillinge. Das hat ihn in der Regel ziemlich geärgert.«

      Endlich gelang es Anja, seine Hand zu ergreifen. Bei dem Gedanken, dass er damit vielleicht den eigenen Bruder umgebracht und das Ganze anschließend so überzeugend als Selbsttötung inszeniert hatte, dass alle darauf hereingefallen waren, wurde ihr ein bisschen schlecht. Am liebsten hätte sie ihre Hand zurückgerissen und an ihrem Hosenbein abgewischt. Doch sie bemühte sich, ihr Unwohlsein und ihren Widerwillen zu unterdrücken und sich von ihren wahren Gefühlen nichts anmerken zu lassen.

      Endlich