IM ANFANG WAR DER TOD. Eberhard Weidner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eberhard Weidner
Издательство: Bookwire
Серия: Anja Spangenberg
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214316
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      Die Fahrt dauerte insgesamt eine knappe halbe Stunde und führte durch die Stadtteile Laim und Pasing nach Obermenzing. Als sie den Bahnhof München-Pasing passierten und kurz darauf die Bahn- und S-Bahn-Schienen unterquerten, dachte Anja automatisch an Melanie Brunner. Das erste der drei vermissten Mädchen war damals hier ganz in der Nähe verschwunden und seitdem nie wieder gesehen worden. Anschließend fuhren sie von der Pippinger Straße zunächst in die Verdistraße und bogen dann in die Wöhlerstraße ein. Anja kannte sich hier noch immer gut aus, denn die beiden letztgenannten Straßen hatten zu ihrem Schulweg gehört, als sie noch die Grundschule besucht hatte, die ganz in der Nähe der Kirche Leiden Christi lag.

      Sie ließ den Abstand zwischen den Autos größer werden, da sie vermutete, dass sie bald ihr Ziel erreichen würden. Und tatsächlich bog der X6 kurze Zeit später in der Longinusstraße rechts in eine Grundstückseinfahrt und hielt vor einer geschlossenen Garage.

      Anja fuhr augenblicklich rechts ran, stoppte am Straßenrand und schaltete Motor und Licht aus. Mehrere Autos, die vor ihr parkten, gaben ihr Deckung. Anja hingegen konnte durch die Scheiben der Fahrzeuge spähen und beobachten, wie ihr Onkel, der am Steuer des BMW gesessen hatte, und seine beiden Kinder ausstiegen. Ohne sich auch nur einmal umzusehen, verschwanden die drei nacheinander im Haus.

      Sie ließ den Wagen wieder an und fuhr anschließend langsam am Haus ihres Onkels vorbei. Durch die Scheiben im Erdgeschoss konnte sie Licht im Innern sehen. In einem der Fenster war die dunkle Silhouette eines Menschen zu erkennen, Anja konnte die Person allerdings nicht identifizieren. Doch wenn sie damit Schwierigkeiten hatte, konnte die Person am Fenster auch nicht in den dunklen Wagen hineinsehen und Anja erkennen, sodass sie sich keine Sorgen machen musste. Sie prägte sich die Hausnummer ein; dann gab sie Gas und fuhr nach Hause.

      2. TEIL

      … und der Tod war bei Mir …

      KAPITEL 10

      Auf dem Pausenhof war es geradezu gespenstisch still.

      Ihre tief sitzende Verärgerung war der Frau deutlich vom Gesicht abzulesen, das ein eng geknüpftes Gitternetz feiner Fältchen aufwies. Sie war schon älter und trug ihr langes ergrautes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Und obgleich sie verhältnismäßig klein und zierlich war, strahlte sie dennoch eine natürliche Autorität aus.

      Sie schnaubte verächtlich und schüttelte verneinend den Kopf. Zweifellos fragte sie sich in diesem Augenblick, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, hierherzukommen, und ihre kostbare Zeit verschwendete. Dann wandte sie sich resolut ab und ging davon. Die Echos ihrer kleinen Schritte auf dem gepflasterten Hof wurden von den Mauern des Schulgebäudes zurückgeworfen, das um diese nächtliche Uhrzeit menschenleer war.

      Doch die alte Frau kam nur ein halbes Dutzend Schritte weit.

      Als ahnte sie instinktiv, dass die Person, mit der sie sich gestritten hatte, sie nicht so einfach gehen lassen würde, blieb sie plötzlich stehen und begann, den Kopf zu drehen, um einen Blick über die Schulter zu werfen. Aber noch ehe sie die begonnene Bewegung vollenden konnte, war die andere Person bereits geräuschlos herangekommen und stand jetzt unmittelbar hinter ihr. Sie warf die Schnürsenkelschlinge, die sie aus der Kängurutasche ihres dunklen Kapuzenpullis geholt hatte und an den Enden zwischen sich hielt, blitzschnell über den Kopf der alten Frau und schlang sie um ihren Hals. Dann zog sie sofort unerbittlich und mit all ihrer Kraft zu.

      Das Opfer hätte sicherlich vor Überraschung, Schreck oder Panik laut geschrien, wäre es dazu noch in der Lage gewesen. Doch alles, was aus seinem weit aufgerissenen, vergeblich nach Luft schnappenden Mund kam, war ein lang gezogenes ersticktes Röcheln, das so leise war, dass es nicht einmal ein Echo an der Schulhausfassade hervorrief. Geschweige denn, dass es außer ihr und ihrem Angreifer irgendjemand hören konnte.

      Instinktiv griff sie sich mit beiden Händen an den Hals. In dem aussichtslosen Bemühen, ihre Finger zwischen Hals und Strangulationsschnur zu bekommen, kratzte sie sich mit den Fingernägeln die Haut blutig. Doch die Schnur hatte sich bereits zu tief in ihren mageren Hals gegraben, als dass sie eine realistische Chance gehabt hätte, sie jetzt noch lösen zu können. Vor allem nicht bei einem Gegner, der größer, jünger und vor allem kräftiger als sie war. Ihre Bewegungen wurden schon deutlich schwächer und unkoordinierter, als ihre Kräfte zu erlahmen begannen.

      Auch der Angreifer, der die Kapuze über den Kopf und tief ins Gesicht gezogen hatte, keuchte vor Anstrengung. Es erforderte eine Menge Kraft, einen Menschen zu erdrosseln. Und er durfte in seinen Bemühungen keinen einzigen Augenblick nachlassen, wenn er die Angelegenheit rasch zu einem erfolgreichen Abschluss bringen wollte.

      Die alte Frau öffnete und schloss wie ein Fisch auf dem Trockenen mehrmals den Mund, als würde sie noch immer nach dem lebensnotwendigen Sauerstoff schnappen, den die einschnürende Drosselschnur um ihren Hals ihr verwehrte. Doch dann endete das Röcheln abrupt, als fehlte ihr sogar dafür die Kraft. Und wenige Augenblicke später erschlaffte auch ihr Körper, als das Leben aus ihm wich, an das er sich immerhin neunundsechzig Jahre lang erfolgreich geklammert hatte.

      Der Angreifer ließ daraufhin das reglose Bündel, das jäh das Doppelte zu wiegen schien, langsam zu Boden sinken und ging dabei in die Knie. Er lockerte die Schlinge um ihren Hals allerdings noch immer nicht. Erst als er wenige Minuten später hundertprozentig davon überzeugt war, dass kein Leben mehr in der Frau steckte, ließ er los und wickelte die Enden des Schnürsenkels von seinen behandschuhten Händen. Er entfernte das Strangulationswerkzeug, das eine tiefe Furche in das Fleisch des Halses gegraben hatte, jedoch nicht, sondern beließ es an Ort und Stelle. Er überzeugte sich lediglich davon, dass die Frau tatsächlich tot war.

      Doch daran konnte es nicht den geringsten Zweifel geben. Sie atmete nicht mehr. Und ihre weit aufgerissenen Augen, die noch immer von dem grenzenlosen Entsetzen in den letzten Minuten ihres Lebens zeugten, starrten blicklos ins Leere. Ihr Mörder hob die behandschuhte Hand und schloss ihr geradezu sanft die Augen, als könnte er ihren Blick nicht länger ertragen. Erst dann richtete er sich wieder zu seiner vollen Größe auf, atmete tief durch und sah sich um.

      Auf dem Schulhof war es wieder ebenso gespenstisch still wie vor dem ruchlosen Mord. Und niemand hatte auch nur das Geringste von der Tragödie mitbekommen, die sich an diesem Ort abgespielt hatte, der sonst vom Lachen von Schulkindern erfüllt wurde.

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