Nachdem sie aufgeräumt hatte, verließ sie die Küche und ging ins Wohnzimmer. Dort holte sie zwei Akten aus dem Schrank, in dem sie auch die Mappe mit den Klassenfotos aufbewahrte. Eine davon war sehr dünn, die andere dafür wesentlich umfangreicher. Sie hatte vor, die beiden Akten mit ins Büro zu nehmen und dort durchzusehen.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es ohnehin Zeit wurde, dorthin zurückzukehren. Aber vorher wollte sie noch ihre Mutter anrufen und nach dem Verbleib der Bibel befragen.
Dagmar Kramer hatte zwei Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes erneut geheiratet. Anjas Stiefvater Josef Fröhlich gehörte die Druckerei, in der ihre Mutter noch immer an drei bis vier Tagen in der Woche im Büro arbeitete. Er hatte ebenfalls ein Kind mit in die Ehe gebracht, einen Sohn namens Sebastian. Dieser war nur wenige Monate jünger als Anja. Doch die beiden trennten mehr als nur diese Monate, denn Anja hatte ihren Stiefbruder von Anfang an nicht leiden können. Im Gegensatz zu ihrem Stiefvater, den sie mit der Zeit ins Herz geschlossen hatte. Das lag nicht nur daran, dass er nie versucht hatte, die Stelle ihres verstorbenen Vaters einzunehmen. Er hatte sie auch oft unterstützt, wenn sie wieder einmal mit ihrer Mutter in Streit geraten war.
Dazu gab es, solange die beiden Frauen unter einem Dach wohnten und Anja noch minderjährig war, mehr als genügend Anlässe. Anja zog deshalb, sobald sie volljährig wurde, in eine eigene Wohnung und begann nach dem Abitur an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege, Fachbereich Polizei, in Fürstenfeldbruck ein dreijähriges Studium. Sie wollte unbedingt Kommissarin bei der Kriminalpolizei werden und wie ihr verstorbener Vater in der Vermisstenstelle arbeiten.
Nach ihrem Auszug schlossen Mutter und Tochter stillschweigend einen Waffenstillstand, der allerdings brüchig war, wenn es um bestimmte Themenbereiche ging, in denen sie höchst unterschiedlicher Meinung waren. Und davon gab es noch immer genügend. Doch wenn sie sich trafen oder am Telefon miteinander sprachen, waren beide Seiten meistens bemüht, kontroverse Themen unausgesprochen zu lassen, um keinen unnötigen Streit vom Zaun zu brechen.
Anja hatte Glück, denn sie erwischte ihre Mutter schon beim ersten Versuch zu Hause und musste es nicht auch noch im Büro der Druckerei versuchen.
Wie immer freute sich Dagmar, von ihrer Tochter zu hören. Ihrer Meinung nach sahen und sprachen sie sich viel zu selten. Anja bemühte sich zwar, ihre Mutter mindestens einmal pro Woche anzurufen und auf dem Laufenden zu halten, hielt ihre Treffen allerdings in Grenzen. Einerseits wollte sie im Haus ihrer Mutter und ihres Stiefvaters nicht unbedingt ihrem ungeliebten Stiefbruder über den Weg laufen, der inzwischen ausgebildeter Rettungssanitäter war und daher unregelmäßige Arbeitszeiten hatte. Andererseits empfand sie ihre Gespräche oft als anstrengend, weil sie bei manch einem Thema gezwungen war, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, um den brüchigen Frieden zwischen ihnen nicht zu gefährden.
»Wie geht es dir?«, fragte Dagmar, nachdem sie sich begrüßt hatten.
»Gut.« Anja sah keinen Grund, ihrer Mutter von ihren augenblicklichen Sorgen und Problemen zu erzählen, denn sie wollte sie nicht beunruhigen. Deshalb gab sie die Standardantwort. »Und dir?«
»Ich kann eigentlich auch nicht klagen.«
Anja erkundigte sich pflichtschuldig nach dem Wohlergehen ihres Stiefvaters und ihres Stiefbruders, obwohl ihr Letzterer herzlich egal war. Doch ihre Mutter hätte es ihr vermutlich übelgenommen, wenn sie es nicht getan hätte.
Dagmar erwiderte, dass es allen gut gehe. Josef habe wie immer viel Arbeit in der Druckerei, und Sebastian sei im Dienst.
Anjas Stiefbruder war vor drei Monaten ebenfalls in die Gewalt des Apokalypse-Killers geraten. Allerdings hatte er ihm nur als Köder gedient, um Anja, die ihn zwischenzeitlich verdächtigte, der psychopathische Serienkiller zu sein, zu einem aufgegebenen Bauernhof zu locken. Dort war Anja dann vom Täter hinterrücks niedergeschlagen worden, als sie Sebastian schließlich in der Küche des heruntergekommenen Bauernhauses an einen Stuhl gefesselt gefunden hatte. Doch im Gegensatz zu den drei weiblichen Opfern hatte er die Begegnung mit dem Serienmörder überlebt und lediglich eine Platzwunde am Hinterkopf davongetragen.
»Und wie geht es diesem …? Wie heißt dein neuer Freund noch mal?«
»Konstantin«, sagte Anja und verzog genervt das Gesicht. Sie verdächtigte ihre Mutter, dass diese sich den Namen absichtlich nicht merkte. Vielleicht wollte sie damit ihr Missfallen darüber ausdrücken, dass Anja ihn ihr bislang noch nicht formell vorgestellt hatte. Aber sie war einfach noch nicht so weit. Schließlich standen sie noch am Anfang ihrer jungen Beziehung und waren noch immer dabei, sich besser kennenzulernen. Noch wusste Anja nicht, wohin diese Reise ging und ob ihre Liebe überhaupt Bestand haben würde. Und bevor sie Gewissheit darüber hatte, ob es sich nur um ein kurzfristiges Strohfeuer oder eine länger währende Sache handelte, würde sie den Teufel tun und Konstantin ihrer Mutter vorstellen.
Darüber hinaus befürchtete Anja, dass Dagmar kein gutes Haar an ihm lassen könnte, sobald sie ihn erst einmal persönlich kennengelernt hatte. Ihre Mutter trauerte ihrem verstorbenen Schwiegersohn noch immer hinterher. Für Dagmar war Fabian trotz seiner Fehler der perfekte Schwiegersohn gewesen. Auch Anja vermisste ihn sehr, denn obwohl er sie ständig mit anderen Frauen betrogen hatte, hatte sie ihn auch nach ihrer Trennung noch geliebt. Doch das Leben ging bekanntlich weiter und ließ ihr wenig Zeit, den Menschen nachzutrauern, die sie verloren hatte.
»Also sag schon, wie geht es Konstantin?«
Anja seufzte. »Es geht ihm gut, Mama.«
»Und? Macht er dich glücklich?«
»Selbstverständlich«, erwiderte Anja, ohne zu zögern. In Gedanken setzte sie allerdings hinzu: Vorausgesetzt, wir sehen uns! Was wegen seines Nachtdienstes nicht so einfach war und nicht so oft vorkam, wie sie sich das eigentlich gewünscht hätte. Und wenn er die Nachtschichten erkrankter Kollegen übernehmen musste, wie es in letzter Zeit häufiger vorkam, dann waren sie sogar noch seltener zusammen. Aber das Leben war nun mal kein Wunschkonzert, und man konnte nicht alles haben. Anja war es leid, über Konstantin zu sprechen, deshalb wechselte sie rasch das Thema. »Ich hab dich aus einem ganz bestimmten Grund angerufen, Mama.«
»Das dachte ich mir schon«, erwiderte ihre Mutter. Ein weiterer feiner Nadelstich, den sie Anja versetzte. Sie vertiefte das Thema, dass sie ihrer Meinung nach viel zu selten miteinander telefonierten und ihre Tochter schon einen guten Grund benötigte, um sie anzurufen, zu Anjas Erleichterung aber nicht weiter.
»Weißt du zufällig, was mit der Bibel passiert ist, die ich damals zur Erstkommunion geschenkt gekommen habe?«
»Bibel?«, fragte Dagmar, als hätte sie diesen Begriff noch nie zuvor gehört und hielte ihn für einen Ausdruck aus einer fremden Sprache, die sie nicht kannte.
»Ja. Du weißt doch wohl, was eine Bibel ist, oder?«
»Natürlich weiß ich, was eine Bibel ist, Anja«, versetzte ihre Mutter in einem Tonfall, der Anja an vergangene Zeiten erinnerte, als sie beide noch unter einem Dach gewohnt und sich täglich mindestens einen heftigen verbalen Schlagabtausch geliefert hatten. »Aber wieso fragst du ausgerechnet jetzt nach dieser Bibel?«
»Weil ich mich heute zufälligerweise an sie erinnert habe«, log Anja, »und einfach nur wissen wollte, wo sie geblieben ist.«
»Und deshalb rufst du mich extra an?«
»Ja.«
»Bist du plötzlich religiös geworden?«
»Jetzt werde bloß nicht albern, Mama!«
Ihre Mutter schwieg eine Weile, als würde sie konzentriert nachdenken. Anja wollte schon nachfragen, ob sie noch in der Leitung war, als sie sich auch schon von selbst wieder zu Wort meldete: »Tut mir leid, Anja, aber ich fürchte, dabei kann ich dir nicht helfen.«
»Das