Remsen meldete sich nicht.
Der Presseraum war für einen Sonntag sehr gut gefüllt. Es waren die üblichen Verdächtigen der Boulevardpresse, aber auch Journalisten seriöser Zeitungen erschienen. Sogar drei Fernsehsender beorderten Kamerateams in die PK. Vor dem zentralen Platz auf dem Podium war eine ganze Batterie von Mikrofonen aufgebaut.
Dietering und Ulrich standen etwas abseits und redeten aufeinander ein. Der Kriminalrat verlegte sich auf die Strategie, eine simple Erklärung rauszugeben, die Ulrich auf die Schnelle verfasste. Weiteren Fragen wollte Dietering nur wenig Zeit einräumen, denn er war davon überzeugt, dass bei dem Aufgebot auf beiden Seiten die Mordkommission kaum Chancen haben dürfte, als Sieger aus der PK hervorzugehen. Außerdem war es noch nie seine Stärke, auf spontane Fragen genauso spontane Antwort zu geben. Er kannte seine beiden Mitstreiter nur zu gut und wusste, dass sich beide im Zweifel hinter ihm verstecken würden.
Remsen tauchte nicht mehr wie erhofft auf, dafür betrat Staatsanwalt Stiegermann unmittelbar vor Beginn der PK den Presseraum, schritt entschlossenen Schrittes nach vorne und nahm auf dem Podium rechts außen Platz. Ganz passend, fiel Dietering dazu nur ein.
Der Kriminalrat verlas im monotonen Ton die von Ulrich verfasste Erklärung. Ohne Emotionen. Ohne den Anschein zu erwecken. Ohne PK unnötig in die Länge zu ziehen. Als Dietering zum Ende kam, stellte er für sich fest, dass der Kriminaloberkommissar den bisherigen Verlauf und den Stand der Ermittlungen so gut zusammengefasste, dass er, Dietering, sich ganz spontan entschlossen hat, keine Fragen zuzulassen.
„Da wir zum aktuellen Stand der Ermittlungen nichts mehr sagen können, bitte ich Sie, auf weitere Fragen zu verzichten. Sobald wir belastbare Ergebnisse haben, werden diese an Sie weitergeben. Bis dahin bitte ich Sie, sich zu gedulden.“
Dietering sah zufrieden auf die Meute und machte Anstalten aufzustehen. Ohne auf Stiegermann und Ulrich zu achten, die aus unterschiedlichen Gründen keine Anstalten machten, ihn zu unterstützen, sah er die Pressekonferenz für beendet an.
Er machte allerdings seine Rechnung ohne die Presse. Sie drängten vor zum Podium oder schrien Fragen in den Raum. Dietering verglich die Situation mit einem Aufruhr eines Publikums am Ende einer Opernpremiere, welches sich äußerst schlecht unterhalten fühlte. Wie er spürte, hinkte der Vergleich, denn die Journalisten fühlten sich vor allem schlecht informiert.
So war es an Guther, einem Vertreter der überregionalen Tageszeitung, seine Fragen so zu stellen, dass Dietering und seine beiden Kollegen diese nicht ignorieren konnten.
„Herr Kriminalrat Dietering, nach meinen Informationen wurde auf dem Haus des Vaters eines der Opfer heute Nacht ein verheerender Brandanschlag verübt. Darüber haben Sie uns nicht informiert. Was können Sie dazu sagen?“
Kai-Uwe Guther war Journalist des Vesberger Tageblatts, eine Zeitung, die aufgrund ihres informellen Netzwerks und der sehr guten Recherchearbeit bekannt und viel beachtet war. Die Mitarbeiter des VT waren phänomenal in Politik, Gesellschaft und in der Wirtschaft vernetzt. Guther hatte sich über viele Jahre seinen Respekt und reichlich Anerkennung beim Vesberger Tageblatt hart erarbeitet.
Er wurde nach der Schulzeit Informatiker, EDV-Facharbeiter wie es damals exakt hieß. Diese Ausbildung musste er machen, da ihm das DDR-Regime aus unerklärlichen Gründen sein Traum, ein Jurastudium, verwehrte. So musste sich Guther mit der EDV arrangieren, was ihm mit der Zeit gelang. Er wurde sogar richtig gut darin, da er sich im Laufe der Jahre in der Kryptographie, den Netzwerkprotokollen und in dem Aufbau von Rechnerverbunden immer besser auskannte. Noch während der Wirren um die Wiedervereinigung sah er seine Chance gekommen und begann mit dem der Journalistik. Guther spezialisierte sich auf Gerichtsberichte, dem Aufarbeiten, vor allem dem Aufdecken von spektakulären Fällen insbesondere der Wirtschaftskriminalität. Vesberg war dafür ein dankbares Pflaster.
Guther beschäftigte sich schon seit geraumer Zeit mit der Entwicklung von IT-Firmen im Großraum Vesberg. Sein Chef war fest davon überzeugt, dass nicht alle davon legal zu Ruhm und Ehre gekommen sind. Guther sollte herausbekommen, welche Geschäfte die Start-ups von damals gemacht haben und welche Beziehungen es in Richtung Osteuropa gibt.
Im Visier hatte er auch CodeWriter. Obwohl die Firma nicht übermäßig groß war, sich seriös gab, war das Umfeld der Kunden von CodeWriter mehr als spannend. Guther war der Meinung, dass in der Sicherheitsbranche kaum etwas ohne illegale Absprachen und Korruption ablaufen würde. Speziell die Beziehung zwischen Hausmann und Weilham, die beiden Macher von CodeWriter und dem Igor Abtowiz, Chef der Safety Objects war Guther suspekt.
Der Anruf gestern Vormittag warf seine Wochenendplanungen komplett über‘n Haufen. Guther war im Presseraum anscheinend der Einzige, der wusste, wer der Tote war und dass dieser von einer Dienstreise aus der Ukraine zurückkam.
Nur wenige seiner Kollegen stellten den Zusammenhang vom Brandanschlag auf das Haus vom alten Weilham und den Toten vom Freitagabend im Wald so her, dass die daraus sprießenden Spekulationen den Kriminalrat Dietering wieder auf seinen Stuhl fesselten.
„Also, ich sag mal so: Wir haben keine Hinweise, dass der Tod von Carsten Weilham mit dem Brandanschlag auf das Haus der Familie Weilham sen. in direkter Verbindung steht. Wir ermitteln aber in alle Richtungen und gehen jeden Hinweis nach.“ Dietering erging sich wie immer in vergleichbaren Situationen in Plattitüden.
„Sicher, die Hinweise, die wir Ihnen geben.“ Der Spott der versammelten Presse war die zu erwartende Reaktion auf das inhaltsleere Statement des Kriminalrats.
Dietering versuchte sich auf dem unsicheren Terrain – der Offensive: „Gehen Sie davon aus, dass wir zum Tathergang jede Menge Hinweise aus der Nachbarschaft haben, die wir sorgfältig auswerten.“
„Herr Dietering, stimmt es, dass die Firma CodeWriter mit einigen ihrer Kunden im Rechtsstreit liegt? Können Sie Zusammenhänge zum Mord an Carsten Weilham herstellen?“
Kai-Uwe Guther war offensichtlich verdammt gut informiert. Jetzt war es an Stiegermann, nicht ganz unterzugehen. „Von welchem Rechtsstreit sprechen Sie Herr Guther? Die Firma CodeWriter hat sich nichts zu Schulden kommen lassen und arbeitet nach unseren Erkenntnissen absolut seriös.“
Stiegermann hatte vor lauter innerer Panik die schlimmste aller Taktiken angewandt und in aller Öffentlichkeit Unkenntnis kundgetan. Eine Steilvorlage, die sich Guther nicht entgehen lassen konnte.
„Herr Staatsanwalt: Die Firma Safety Objects hat vor einiger Zeit gegen CodeWriter Klage eingereicht. Hintergrund ist ein Streit mit dem Softwarehersteller über Funktionen in der Software, mit der sich die Arbeit von Safety Objects ausspähen lässt. Reden Sie nicht mit Ihren Kollegen vom Wirtschaftsdezernat?“
Kriminaloberkommissar Ulrich, der bis jetzt völlig unbeteiligt der Pressekonferenz beiwohnte, sackte innerlich zusammen. Sollte das der Grund sein, warum Weilham gestern bei der missglückten Gegenüberstellung auf Abtowiz losgegangen ist, sinnierte er, ohne gleich eine Antwort darauf zu finden. Er musste an Remsen rankommen, irgendwie.
„Herr Guther, Wirtschaftsdelikte stehen hier nicht zur Diskussion. Er haben zwei Tote und müssen herausfinden, wer Interesse an den Tod der beiden hat und Mörder der beiden ist. Geschäftliche Streitigkeiten können Sie gerne morgen bei der Pressestelle der zuständigen Wirtschaftskammer recherchieren. Andere Fragen bitte.“
Stiegermann versuchte mit seiner aufgesetzt arroganten Art die PK wieder in den Griff zu bekommen und ignorierte die Fragen der Journalisten.
Guther war im Laufe der Jahre Profi geworden und konnte abwarten. Genau in dem Moment, als seine Kollegen mit ihren mehr oder weniger verbalen Fragen durch waren, meldete er sich wieder zu Wort: „Soweit ich weiß, gab es gestern Abend zwischen Herrn Weilham und Herrn Abtowiz ein handgreifliches Treffen; im Beisein Ihrer Ermittler. Können Sie uns den Hintergrund erklären?“
Nein, das wollte Stiegermann nicht. Auch Kriminalrat Dietering verfügte weder über Detailkenntnisse noch über die Bereitschaft, dazu Stellung zu nehmen. So musste wohl oder über Kriminaloberkommissar Ulrich irgendetwas dazu sagen: „Wir erhielten gestern während der Ermittlungen davon Kenntnis, dass sich am Freitagabend beide zum Essen getroffen haben.