Nöthe war jetzt richtig blass. Das lag bestimmt nicht nur an dem frühen Sonntagmorgen und an die kurze Nacht davor. Nöthe drehte plötzlich ganz schnell ab und suchte den weißen gefliesten Raum.
„Und Nöthe noch ein Tipp: Drug‘s sind dort nicht immer Freunde. Schön vorsichtig sein bei dem, was Sie sagen und was Sie naschen“, rief Remsen seinem fliehenden Assistenten hinterher.
Kundoban tadelte ihn: „Das war nicht nett. Der hat jetzt schon die Hose voll.“
Prof. Eilers warf einen Blick auf die Krankenakte des in der Nacht neu eingelieferten Patienten. Eilers ist Chef der chirurgischen Intensivstation im Universitätsklinikum Vesberg, die sich um mehrfach verletzte Unfallopfer kümmert. Je nach Schwere liegen die Verletzten für längere Zeit im Koma und werden nach Möglichkeit wiederhergestellt. Einen derart lebensbedrohlich verprügelten Patienten hatte selbst Prof. Eilers in seiner langen Laufbahn in der Intensivmedizin noch nicht gesehen. Er runzelt seine Stirn und scheint davon überzeugt, dass dieser Mann längere Zeit sein Gast sein wird; sofern der seine Verletzungen überlebt.
Als Sofortbehandlung wurden gleich nach der Einlieferung alle Organfunktionen auf Beeinträchtigungen hin untersucht. In den Intensivzimmern stehen mehr Rechner und Monitore als in jedem Rechenzentrum eines mittelgroßen Unternehmens. Der Patient ist an allen Versorgungs- und Kontrollgeräten angeschlossen, die dem Klinikum zur Verfügung standen. Jetzt befindet er sich in einem künstlichen medikamentösen Schlaf, allgemein auch als künstliches Koma bekannt. Die inneren Verletzungen sind mutmaßlich so schwerwiegend, dass Prof. Eilers dem Patienten nur eine mittlere bis minimale Überlebenschance einräumte. Wahrscheinlich werden die Schäden an Lunge und den Nieren schwer zu reparieren sein. Nur wenn der Patient stark genug ist, kann er es schaffen. Äußerlich schien der Mann in sehr guter Verfassung zu sein, durchtrainiert und kaum Fett am Körper. Ob das reicht, kann in dieser frühen Phase noch nicht abgeschätzt werden.
Mit seinem Team machte Prof. Eilers an diesem Morgen seinen Rundgang und Station im Intensivzimmer Nr. 3. „Wissen wir schon, wer er ist?“
Die diensthabende Schwester, die schon bei der Einlieferung mit dabei war, schüttelte den Kopf. „Gefunden wurde er gestern Abend, etwa gegen 22 Uhr in einer kleinen Sackgasse, unten an der Uferstraße. Er besaß keine Papiere, kein Portemonnaie und kein Geld bei sich. Wir haben keine Hinweise auf eine Identität gefunden.“
„Wer hat das gemeldet?“, wollte Prof. Eilers wissen.
„Im Protokoll der Samariter stand, dass es ein Anwohner war. Der war angeblich mit seinem Hund eine Runde gegangen und fand den Verletzten. Name und Adresse sind notiert. Der hier wurde richtig übel zusammengeschlagen. So etwas habe ich noch nie gesehen.“
Der junge Arzt der Wochenendbereitschaft war sofort in der Aufnahme, als die Einlieferung avisiert wurde. Auch die Erstaufnahme stammte von ihm. Der Arzt setzte darauf eine Sofortoperation an und trommelte aus dem Klinikum die besten Ärzte zusammen. Auch nach Meinung von Prof. Eilers konnte damit das Leben des Mannes gerettet werden. Vorerst zumindest. Jetzt muss der sich im Koma erst einmal stabilisieren und danach zusammengeflickt werden. Ein langer, sehr langer Weg zurück ins normale Leben.
Prof. Eilers schmeckte es nicht, dass sich ein nahezu totgeschlagener Mann mit unbekannter Identität in seiner Obhut befindet. Aus Erfahrung weiß er, dass das immer mit jeder Menge Ärger verbunden ist. „Ist die Polizei informiert?“
Der Bereitschaftsarzt bestätigte, dass das ein Routinevorgang sei und gleichzeitig mit den Samaritern die Polizei in der Aufnahme war. „Die Jungs meinten, dass es sich um einen Ausländer, vielleicht Osteuropäer handeln könnte. Sie konnten mir aber nicht erklären, woher sie diese Ahnung hatten.“
„Kommen die noch mal vorbei? Gibt es eine Vermisstenmeldung oder so? Angehörige müssten doch merken, wenn ein Mann nachts nicht nach Hause kommt. Wie ein Obdachloser sieht der nun wahrlich nicht aus – oder?“ Prof. Eilers beschlich das mulmige Gefühl, dass mit fortschreitender Genesung und Vernehmungsfähigkeit des Patienten die Polizei Stammgast in seiner Station werden würde. Prinzipiell ist das für ihn kein Problem, aber schön ist es auch wieder nicht.
Die Stationsschwester schaltete sich in das Gespräch ein: „Soweit ich das mitbekommen habe, wusste die Polizei gestern Abend noch nichts von einer entsprechenden Vermisstenmeldung. Die tauchen bestimmt heute nochmal auf und werden sicher versuchen, mehr über unseren Unbekannten zu erfahren. Jetzt können wir nur abwarten und hoffen, dass er sich stabilisiert.“
„Gut, seht gut.“ Prof. Eilers deutete auf den Bereitschaftsarzt: „Sie informieren mich umgehend, wenn die Polizei wieder ist. Auch wenn ich nicht hier auf der Station bin; Sie melden sich auf jeden Fall bei mir. Wir müssen erreichen, dass die Polizei unseren Betrieb hier nicht behindert.“
Damit drehte der Professor ab und auf das Zimmer Nr. 4 zu.
Kriminalrat Karl Dietering empfand nach so vielen Dienstjahren kein Vergnügen mehr daran, dass er am Wochenende aktiv werden sollte. Gestern am Samstag war es noch ganz einfach: Er hatte Kriminaloberkommissar Ulrich den von ihm wenig geliebten Remsen an die Seite gestellt und sich von dem auf den Laufenden halten lassen. Nachdem Remsen gestern Abend ihn über den aktuellen Ermittlungsstand unterrichtete, entschloss er sich, am Sonntag selbst in die W36 zu fahren und sich persönlich über die Arbeit seiner Mordkommission zu informieren. Wahrscheinlich steht heute noch eine PK an, denn die Pressegeier haben sicher schon vom Unfall erfahren. Dass es Mord war, wusste außerhalb des Teams aber noch niemand. Hoffentlich!
Er fand Remsen und die Kriminalassistentin Kundoban beim angeregten Plauschen in der Kaffeeecke. Kaum ist man mal nicht im Haus, schon lässt die Ernsthaftigkeit und das Engagement zu wünschen übrig. Dietering dachte sich seinen Teil und daran, dass Remsen keinen ruhigen Sonntag haben wird.
Remsen sah ihn kommen und fand, dass der Sonntag bisher ausgesprochen ruhig war. Das würde ab jetzt ändern und fragte sich, warum ihm plötzlich Van Morrison, „Hymns to the Silence“, in den Sinn kam. Eine Platte, die erst kürzlich aufgelegt und immer wieder und wieder hörte. Stimmt, auf der einen Platte dieser Doppelausgabe erinnerte er sich an „Village Idiot“: kurz und knapp: Trottel.
Immer diese nicht einfangbaren Assoziationen. Jan, mit dir wird’s noch einmal böse enden.
„Ach guten Morgen Herr Kriminalrat.“
Remsen machte noch nicht einmal Anstalten aufzustehen, um seinen Chef an einem Sonntagvormittag zu würdigen. „Setzen Sie sich doch zu uns, wir haben den allerbesten Kaffee in der W36 und sogar noch Kuchen von meinem Bäcker um die Ecke. Möchten Sie?“
„Kriminalhauptkommissar Remsen, wir sehen uns in meinem Büro. Umgehend, wenn ich bitten dar. Sie kommen bitte mit.“ Kriminalrat Dietering deutete auf Jutta Kundoban, die einen virtuellen Kampf mit Ihrer Kaffeetasse führte. Irgendwie sah man auch ihr an, was ihr Kollege Remsen von der Störung und der an ihm herangetragenen Besuchsaufforderung hielt. Sie nickte nur und konzentrierte sich auf den nächsten Schluck.
Im Büro des Kriminalrats Dietering bat dieser, seine Besucher Platz zu nehmen.
„Heute Nachmittag müssen wir eine PK ansetzen; die Medien haben schon Wind von dem Unfall bekommen. Lange können wir nicht mehr verhindern, dass es Mord war. Übernehmen Sie das Remsen?“
„Aber nur, wenn Sie mich begleiten Chef. Wie es aussieht, wird die Geschichte größere Kreise ziehen und einigen Rummel verursachen. Beide Toten waren auf dem Rückweg von einer Geschäftsreise aus der Ukraine. Dort führte Carsten Weilham mit einem potentiellen Kunden, einer Sicherheitsfirma aus Lemberg, Gespräche. Die waren wohl schon so weit, dass die Account Managerin der Ukrainer mit hierhergekommen ist, um sich die Firma CodeWriter genauer anzuschauen. Als Vorhut sozusagen, bevor die Chefs kommen und die Verträge unterschrieben werden.“
„Was macht CodeWriter? Ich kenne die Firma nicht. Sind die aus der Ukraine?“
Jutta Kundoban übernahm die Beantwortung der Frage: „Die sind hier in Vesberg ansässig und entwickeln Software für Überwachungsfirmen. Nicht allzu groß, aber doch recht erfolgreich und stabil im Geschäft.