„Klar, ich meine doch nur den Geheimhaltungsvertrag.“ Bit grinste immer breiter.
„Wenn du der Presse irgendetwas sagt, dann nehme ich dich in U-Haft. Untersteh dich.“
„Gerne, aber nur, wenn wir beide eine Gemeinschaftszelle bekommen.“ Bit entwickelte sichtlich Spaß, Jutta zu verunsichern und mit seinen Kenntnissen zu prahlen. „Keine Sorge Mädchen, ich schweige wie ein Grab. Wir Nerds reden ohnehin nicht gerne.“
„Sag nicht Mädchen zu mir. Und außerdem: Für einen Nerd bist du heute sehr gesprächig.“
Sie saßen noch etwas beisammen und tranken den Rest des Weins. Claudia schaltete Musik ein; irgend so ein Mainstream-Getöse, würde zumindest Remsen dazu sagen. Dessen war sich Jutta sicher, denn ihr selbst ging die Musik auf die Nerven.
Bit war inzwischen gegangen. Gleich nach Juttas Bitte oder Auftrag, egal wie er es sah, machte er Anstalten, um zu gehen. Wahrscheinlich sitzt er schon wieder zwischen seinen Servern und Monitoren und sucht nach „Backdoors“. So ein Typ, denkt sie sich. Wahrscheinlich ist er der Überzeugung, dass sein Schaffen nur durch Schlafen unterbrochen werden muss. Und Pizzaessen natürlich. Weltveränderer oder sowas. Wie überleben eigentlich Nerds?
Der Wein wirkte bei Jutta. Sie spürte eine unendliche Müdigkeit und haderte noch, ob sie gehen oder bei Claudia bleiben sollte. Nach dem Wochenende und in Erwartung einer nicht minder anstrengenden Woche wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine lange Nacht, mit Tiefschlaf und möglichst ohne Traum.
Claudia erahnte wohl die Gedankenwelt ihrer Freundin und schickte sich an, in die sonntägliche Badewanne zu steigen. „Kommst du mit? Ich massiere dich auch, damit du richtig gut schlafen kannst.“
Ob Jutta die Frage noch registriert hat, kann sicher keine der beiden beantworten. Jutta war eingeschlafen und offensichtlich in Schallgeschwindigkeit in die Tiefschlafphase entschwunden. Claudia seufzte, sie wäre so gerne mit Jutta in die Wanne gestiegen. Aber gut; sie besaß Verständnis für den Job ihrer Freundin. Sie zog ihr die Schuhe aus und brachte Jutta in eine etwas bequemere Stellung, die morgen beim Aufwachen nicht gleich Nackenschmerzen verspricht. Mit einer Decke sorgte sie dafür, dass Jutta über Nacht nicht friert. Claudia dämmte das Licht im Zimmer und schlich ins Bad.
Jutta wehrte sich nicht dagegen gewehrt. Ihr fielen einfach die Augen zu; sie fand es ganz gut, denn sie fühlte sich hier bei Claudia aufgehoben. Zu mehr konnte sich sie sich ohnehin nicht mehr aufraffen.
Jetzt schlief sie tief und fest, solange bis ihr Telefon klingelte.
Mitten in der Nacht.
In Delft.
Er telefonierte aufgeregt und organisierte seinen Plan C. Besser: Er korrigierte ihn.
Eigentlich wollte er bis morgen warten, aber nach vielem Hin und Her rang er sich dazu durch, es selbst in die Hand zu nehmen. Auf die Leute in Vesberg war noch nie Verlass. Ihm war das schon immer klar, nur hörte niemand auf ihn.
Lass uns das machen, wir bekommen das schon hin, damit vertrösteten sie ihn immer und immer wieder. Wie dumm von ihm, dass er darauf vertraute, als sie ihm die besten Auftragskiller aus ganz Osteuropa versprachen.
Dilettanten waren das und nicht mehr.
Wieder aktivierte er die Maschinerie, denn er wollte absolut sicher sein. Er wählte eine Nummer an. Eine, die er bisher als eiserne Reserve zurückhielt und nie nutzen wollte.
Nachdem der Angerufene sich meldete, begann er auch schon: „Ihr holt sie euch aus dem Haus. Wenn ich das richtig sehe, müsstet ihr im Dunklen über das linke Nachbargrundstück ungesehen rankommen. Euren VAN könnt ihr daneben parken, da müssten ein paar Büsche oder so etwas sein. Betäubt beide und weg damit. So schnell es geht verschwindet ihr mit denen. Ich will keine weitere Leiche im Haus, verstanden? Morgen muss Weilham weg sein, sonst wird es für euch ungemütlich, verstanden? Lenkt die Bullen ab und inszeniert in der Nähe einen Unfall oder eine Schlägerei. Das bekommt ihr wohl noch hin, oder?“
Er legte auf und begab sich in seinen Ankleideraum. Auf der Ablage neben der Tür lag sein Koffer, in den er lustlos und unkonzentriert Wechselsachen warf. Diese Reise wollte er so nicht antreten. Aber er musste die Geschichte jetzt durchziehen, ansonsten wird er selbst eines Tages als Treibgut aus der Nordsee gefischt. Mit seinen Auftraggebern ist nicht zu spaßen.
Sein Flugdienst signalisierte ihm, dass sie noch eine Flugerlaubnis bekamen, wenn er sich beeilen würde und sie innerhalb der ein bis zwei Stunden starten würden.
Zweifel überkamen ihn. Soll er oder soll er nicht? Er überlegte hin und her und irgendwann wischte er alle Gedanken beiseite: Ja, er musste es tun.
Es war schon 20 Uhr durch, als sich in der Geertryt van Oostentraat in Delft ein Garagentor öffnete und ein schwarzer Jaguar XJS sich in Richtung Flughafen auf den Weg machte. Der Fahrer wusste, dass es sehr schwierige Reise, vielleicht seine letzte, werden würde. Aber er trat sie an.
Remsen fühlte sich wohl, so richtig wohl. Er genoss seinen Laphroaig. Getreu seiner Devise, je älter umso besser, zeigte Stahlburg stolz den Ältesten seiner Schätze vor. Und teilte diesen mit ihm.
Oberstudienrat a.D. Dr. Kurt Stahlburg ist einer der wenigen Vertrauten in seiner neuen Heimat. Remsen hatte in einem seiner ersten Fälle in Vesberg mit einem Mord in Verbindung mit illegaler Schwarzarbeit zu tun. Ein Informatikprofessor ist Opfer seines eigenen Geschäftsmodells geworden. Dieser ließ Studenten seines Lehrstuhls für sich arbeiten und kassierte gleichzeitig bei seinen Kunden kräftig ab. Einer seiner Studenten fand das irgendwann nicht mehr witzig und wollte seinen Prof erpressen. Mit Hilfe von Dr. Stahlburg fand Remsen die richtige Spur. Studenten halfen ihm dann, den Fall aufklären.
Remsen ist seitdem mit ihm lose verbunden. Anfangs war Stahlburg noch im aktiven Dienst und leitete eine höhere Berufsfachschule für Informatik. Inzwischen ist er pensioniert und ein äußerst dankbarer Gesprächspartner für Remsen. Stahlburg ist im Alter noch immer rege und beschäftigt sich mit den Verwerfungen nach der Einheit. Er trennt säuberlich zwischen dem, was die Menschen hier erreicht haben und dem, was aus seiner Sicht den Bach runtergegangen ist.
Stahlburg ist ein Kind des Ostens. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs ist er mit seinen Eltern in einem Flüchtlingstreck in der Nähe hängengeblieben. Seine Eltern akzeptierten nie, dass sie aus der Heimat vertrieben wurden. So sahen sie den Aufenthalt in Vesberg nur als Übergang an und planten immer eine Rückkehr. Die Grenzen zogen für sie aber andere und sorgten dafür, dass aus den Plänen nie etwas wurde. Stahlburg machte Karriere in der DDR, obwohl er sich nie als angepasst, schon gar nicht als Mitläufer oder als Eiferer sah. Er konzentrierte sich auf seinen Beruf, ließ sich nicht beirren oder gar anwerben und umschiffte viele Klippen in der Diktatur; etwas geheimnisvoll manchmal, in jedem Fall mit Geschick und etwas Glück.
Mit dem, wie es heute gerne beiläufig heißt, Wendegeschehen, hat er so seine Probleme, noch immer. Was ist hier Mitteldeutschland? Die Mitte von oben und unten oder links und rechts? Stahlburg kam nie und kommt noch immer nicht mit der wenig differenzierten Betrachtung der Entwicklung seit ’89 klar. Für die Zeit der Pensionierung dachte er sich etwas Besonderes aus und machte keinen Hehl daraus: Er wird alles so aufschreiben, wie er es erlebte, es er es sieht und für sich als richtig befindet. Ob das Buch je erscheinen wird, ob es je gelesen wird, war ihm egal. Darauf angesprochen antwortete er, dass es seine Art des Friedenmachens ist.
Remsen holte sich in den Gesprächen mit Dr. Stahlburg Ideen und ließ sich davon leiten, so zu denken, wie es die Leute hier seit vielen Jahren tun und noch nicht so richtig ablegt haben. Stahlburg erläuterte ihm an den besonders langen Abenden, warum Skepsis und Misstrauen noch immer fester Bestandteil der geistigen Kultur in Vesberg und Umgebung sind. Und warum die Menschen hier so sind.
„Was bedrückt Sie Herr Remsen? Heute war ja die Pressekonferenz Ihrer Kollegen. Ich hab davon etwas mitbekommen im Fernsehen und mich schon gefragt, warum Sie nicht dabei waren. Sie sind doch der leitende Ermittler?“
„Ich hatte noch einen Termin für ein Essen.