Im Laufe der Zusammenarbeit entwickelte sich eine eigenartige Spannung. Diese drückte sich in Reibereien zwischen beiden aus; sehr oft von Ulrich initiiert, der regelmäßig versuchte, Remsen zu disziplinieren. Der perfektionierte allerdings als Anti- und sogar Abwehrreaktion seine Form der Alleingänge, dass Ulrich oft das Nachsehen hatte oder viel zu spät über den Ermittlungsverlauf informiert wurde. Information ist Macht; das erkannte Remsen schon lange als seine Maxime und so arbeitete er auch; vor allem wenn sein Hansi mit an Bord war.
Remsen beabsichtigte auch heute nicht, sich von Hanns-Peter aufhalten zu lassen. Seinen Drang zur Frau Weilham zufahren, unterstrich er mit der Bemerkung: „Die Kollegin Kundoban ist bestens informiert und wird dich über alles in Kenntnis setzen. Ich muss jetzt los.“
Und raus war er.
Jetzt auch noch der Hansi. Kann denn kein Fall mal ohne diese Spaßbremse ablaufen? Remsen bog noch schnell zur Toilette ab, da die ganz praktisch auf dem Weg zum Hinterausgang lag. Erleichtert hielt er noch kurz an der Zentrale an und fragte nach neuen Informationen von Nöthe oder der Spurensicherung.
„Und aus dem Keller?“ Der Wachhabende verstand, dass Remsen die Pathologie meinte, schüttelte aber den Kopf und erinnerte Remsen daran, dass dieser sofort informiert wird, wenn in der Zentrale Informationen auflaufen.
Na bestens, dachte sich noch Remsen, als er die Tür am Hintereingang zum Parkplatz aufdrückte. Eigentlich meinte er die gute Organisation der Zentrale, auf die er sich verlassen konnte. Es könnte aber auch auf das Abbild auf Remsens Augen passen. Jedenfalls saß der Schreck richtig tief, als er Ulrich an seinem Auto stehen sah.
„Keine Widerrede Jan, ich komme mit. Unterwegs kannst du mich aus allererster Hand informieren. Die Kollegin hast du ja mit Arbeit komplett eingedeckt.“
Die Körperhaltung von Ulrich ließ keinen Zweifel aufkommen: Ich fahre hier mit, ob im schwarzen Ungeheuer oder im blauen Streifentaxi hinterher.
Remsen resignierte innerlich und erinnerte sich an den weisen Ratschlag: Nicht jede Schlacht muss geschlagen werden. Immerhin hat auch er eine Geheimwaffe, nämlich seinen unübertroffenen Sound im Auto. Dazu noch seinen, na ja nicht mehrheitsfähigen Musikgeschmack. Thin Lizzy mit „Bad Repuation“ könnten helfen.
Hanns-Peter Ulrich ist Kriminaloberkommissar, aber nicht sein Chef. Beide werden sie immer wieder von Dietering zusammen losgeschickt. Ulrich, der hier zu Hause ist, die Leute kennt und meist schon im Voraus ahnt, warum sie so oder so denken und handeln, genießt sicher seinen Heimvorteil. Remsen, mit großer Erfahrung aus vielen Jahren Hamburger Ermittlungsarbeit, kennt sich mit vielen Formen des Verbrechens aus, insbesondere mit internationaler organisierter Kriminalität. Davon gab es in Hamburg leider jede Menge und Remsen geht davon aus, dass das weniger geworden ist. Ulrich respektiert ihn ganz sicherlich, jedoch sind beide gerne auch zwei Pole, die sich aneinander reiben oder wenn es übel kommt sprichwörtlich polarisieren. Zu unterschiedlich sind beide, wenngleich trotz allem die Arbeit miteinander nicht die schlechteste ist.
„Gut, gut, wenn es sein muss, dann steige ein.“ Remsen startete den Buick, gab die Adresse in das Navigationssystem ein und verließ den Hof.
So langsam wurden sie wach. Der Job kostete jede Menge Nerven und war nicht so leicht zu erledigen. Obwohl, sie werden immer wieder zu Aufträgen ähnlicher Art gerufen. Aber hier in Deutschland ist es sehr gefährlich. Anders als zu Hause in Moldawien ist die Polizei hier gut ausgestattet und vor allem unbestechlich. Die Gefahr, entdeckt zu werden, ist nicht zu unterschätzen.
Sie machten keinen Fehler. Nein, sie waren richtig gut. Der Hirsch wurde wie vorhergesagt zur richtigen Zeit geliefert und die Straßensperren scheinen funktioniert zu haben. Ein Anruf würde Gewissheit verschaffen, ob alles tatsächlich funktionierte. Das würde allerdings gegen die Anweisung sprechen, in Deutschland jemals ein Telefon einzuschalten. Ansonsten wäre die Ortung möglich und die gesamte Geschichte könnte auffliegen. Der Auftrag hieß eindeutig: Am Sonnabend noch bei Tageslicht mit den vorbereiten Autos Deutschland verlassen. Einzeln und auf unterschiedlichen Routen. Jeder von Ihnen sollte einen eigenen Grenzübergang wählen. Aussehen sollen sie wie Deutsche, also keinen Schnauzbart haben, sauber, rasiert und in typisch deutscher Kleidung die Grenze passieren. In den Autos lagen Pässe, extra für jeden von ihnen. Nichts darf schief gehen, bis zum Schluss. Alles war penibel durchgeplant. Erst wenn alle wieder zurück in Moldawien sind und keiner hochging, fließt der zweite Teil der Vereinbarung. Das Honorar. So war es ausgemacht.
„Los, hoch. Wir müssen uns fertig machen und weg von hier.“
Seine beiden Mitstreiter schliefen noch oder waren gerade dabei, wach zu werden. „Wir haben noch maximal eine Stunde, dann müssen wir hier raus sein. Bevor es dunkel wird, müssen wir über die Grenze in Polen sein. Also macht jetzt.“
Sie erhielten als Unterschlupf nach ihrem Aufträgen Schlüssel für ein kleines Häuschen in der Nähe von Vesberg von ihrem Auftraggeber. Dort durften sie weder Licht anmachen noch heizen. Kein Anzeichen, dass das Häuschen, eher eine Hütte bewohnt war, war die Abmachung. Gelegentlich gehen Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern tagsüber eine Runde um den nahe gelegenen See. Außerdem ist die Hütte Teil einer Gartenanlage. Zwar geht da im November kaum noch jemand hin, aber man kann ja nie wissen.
Inzwischen war alle drei wach, wuschen und rasierten sich – sie sollten einen gepflegten Eindruck machen, falls es doch zu einer Kontrolle kommt. Der Grenzschutz schickte in unmittelbarer Umgebung der Grenze schon länger mehr Zivilfahrzeuge als früher in die Schleierfahndung. Das war die Information des Auftraggebers. Sie mussten auf der Hut sein, um weder hier in der Gartenanlage noch auf dem Weg zur Grenze irgendwelche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Mit großer Sicherheit ist die Fahndung nach dem Unfall bereits gestern Nacht angelaufen. Und wenn im Wald Teil II ihres Werks auch noch entdeckt wird, dann darf man von erhöhter Präsenz der Polizei, überall ausgehen. Eigentlich verlangte er als Anführer von den Auftraggebern, erst einen Tag später zu verschwinden. Das wäre wohl viel zu heikel geworden. Die Auftraggeber wollten die drei so schnell wie möglich wieder los sein. Jetzt sind wir die heiße Kartoffel, mal wieder. Er war sicher, die nächsten zwei Stunden werden vielleicht sein Leben und das seiner Kumpels hier verändern. Hoffen wollte er es nicht.
Nach dem Essen begann die Observierung des Umfelds des Gartenhäuschens. Dafür deponierte der Auftraggeber oder wer auch immer ein richtig gutes Fernglas in der Hütte. Zum Glück ist dieser Sonnabend so, wie man einen Tag im November erwarten durfte: grau, trübe und regnerisch. Das kann helfen, um hier ungesehen wegzukommen.
Gut zwanzig Minuten brauchten sie, um die Gewissheit zu haben, dass sie unbeobachtet das erste Auto erreichen. Und es sah gut aus, denn nirgends war jemand zu sehen. Der Erste konnte es versuchen.
Als Spaziergänger angezogen ging er aus dem Garten und spazierte den Weg entlang, entgegen der Richtung zum Auto. Dieses stand nicht einsam auf einem Parkplatz, sondern war etwas weiter weg, in der Nähe des Flusses, an einer gut befahrenen Straße geparkt. Dort standen jede Menge Baufahrzeuge, kleine Autos, Pritschenwagen und sogar einige Wohnmobile. Wer sollte da schon auffallen, wenn jemand zu seinem Auto geht und sich reinsetzt.
Ausgemacht war, dass nach knapp 10 Minuten der Zweite folgte, jedoch einen anderen Weg nimmt. Sollte der irgendetwas Auffälliges bemerken, muss er über einen Seitenweg wieder umdrehen und zur Hütte zurückkommen. Kein Risiko war ihnen ausdrücklich eingeschärft worden.
Jetzt war er dran. Er schloss das Gartenhaus ab und deponierte den Schlüssel am vereinbarten Ort. So unauffällig wie möglich durchquerte er den Garten und die Anlage. Eine Sackgasse noch und dann erreichte er auf der Uferstraße.
Teil I der Flucht ist gelaufen, dachte er sich noch, als er in Sichtweite des Autos kam. Oh Scheiße,