„Bitte gleich, besser sofort.“ Remsen hatte nämlich genau dieses Detail in der selbstformulierten Anweisung von Nöthe vermisst.
„Ja, ja.“ Nöthe war schon fast unterwegs.
„Und bekommen Sie raus, wer hinter CodeWriter steckt.“ Bisschen Arbeit kann nicht schaden. Unser Assistent sah richtig schläfrig aus, dachte sich Remsen.
„Wissen Sie Jan, solange es nicht hell wird, werden wir wohl auf weitere Erkenntnisse warten müssen.“
Jutta Kundoban war erst knapp ein Jahr bei der Mordkommission; der W36 wurde sie jedoch erst vor kurzem zugeteilt. Sie sollte von Remsen und den anderen lernen. Bislang bereute sie ihre Versetzung nicht. Remsen war nicht so ein Einzelgänger, wie alle von ihm dachten. Ja, er war manchmal wie ein alter Kauz, zu direkt und wirkte dadurch abweisend. Aber Jutta mochte ganz gerne mit ihm arbeiten, war er doch der Beste in der Truppe. Aber auch der Unbeliebteste.
„Was haben wir bis jetzt?“ Remsen beantwortete seine Frage gleich selbst. „Einen kapitalen Hirsch, nicht mehr unter uns, der nach Aussagen der Kriminaltechniker scheinbar erst nicht bei der Überquerung der Straße seine letzten Schritte machen durfte. Ein demoliertes Auto, welches in Vesberg auf eine Firma CodeWriter zugelassen ist. Oder war. Und eine unbekannte Tote. Kein Hinweis wer sie war, wo sie herkam und wohin sie wollte“.
„Doch, Osteuropäerin.“ Reiken trat zu den Kollegen der Mordkommission. „Dr. Ansbaum hat so eine Ahnung. Nein, Jan“, Reiken hob die Hand, „es gibt keine Hinweise darauf, aber du weißt ja, so schlecht sind seine Deutungen noch nie gewesen.“
„Zu spekulativ.“ Remsen entwickelte keine Lust auf großes Kino am Wochenende. „Wenn wir wissen, wer hinter CodeWriter steckt, werden wir dort einen Besuch abstatten. Vielleicht sind die Herren schon bei der Arbeit.“
„Oder Damen. Immerhin haben wir eine weibliche Leiche“ Kundoban achtete gerne auf Gender-Korrektheit. „Kann ja sein, dass die Firma von Frauen geführt wird. Nicht ungewöhnlich in Vesberg, sind doch damals in der DDR beide Geschlechter ausgebildet und zum Arbeiten genötigt worden. Egal ob ein Kind da war oder nicht.“
Mit damals meinte Jutta Kundoban die Zeit der Staatsdiktatur, die sie noch als Heranwachsende miterlebt, aber nie verstanden richtig hat. Jutta pflegte deshalb zu ihrer DDR-Vergangenheit ein eher entspanntes Verhältnis, was ihr einige Leute aus ihrem Umfeld übelnahmen.
Gerade die ältere Generation im Osten Deutschlands betrieb noch immer einen eigenartigen Umgang mit dieser Zeit. Während die Profiteure von einst, Parteigänger, Mitläufer, Schmarotzer, die diktatorischen Vorzüge und die sozialen Wohltaten priesen und wieder zurückhaben wollten, üben sich die Gewinner der friedlichen Revolution in Anklage und Verdammung.
Remsen wusste, dass Jutta in der DDR geboren und aufgewachsen war und kannte aus vielen Diskussionen ihre Variante vom Verständnis der Zeit ‚damals‘. Er selber tat sich schwer damit und folgte meist stumm den unendlich langweiligen Erzählungen von ‚damals‘. Okay, nicht ganz fair, aber es ging ihm schlicht nichts an und er wollte überhaupt nichts mit dieser Zeit zu tun haben.
„Entweder ist die Tote eine Angestellte von CodeWriter oder das Auto geklaut worden. Soll recht oft vorkommen, in der Gegend.“ Jetzt teilte Reiken seine Idee. Er verfolgte anscheinend den Verdacht, dass das Auto für eine illegale Grenzübertretung Richtung Osten geklaut war und in der Nacht hergerichtet werden sollte.
„Wenn jemand ein Auto klaut, dann tauscht man doch sofort die Schilder aus, oder nicht?“ Remsen hing der Theorie nach, konnte ihr aber nichts Entscheidendes abgewinnen.
„Vielleicht hatte es jemand erst unmittelbar davor gestohlen!?“ Reiken ließ nicht locker. Es war halb eine Frage, halb eine Feststellung. Ein Gestochere.
„Liegt eine Meldung vor, Nöthe?“ Remsen schielte nach seinen Assistenten. Von dem war weit und breit nichts zu sehen. Macht nichts, der wird kein ruhiges Wochenende haben, dessen war sich Remsen sicher.
„Kann ja sein, aber was macht dann ein Hirsch auf der Straße? Wollte den Autoklau verhindern und ist dabei selbst zu Schaden gekommen?“ Jutta musste selbst über ihren Gedanken lächeln.
„Ein toter idealistischer Hirsch? Vielleicht haben die es tatsächlich besser und ein Leben nach dem Leben.“ In einer Gourmetpfanne wollte Remsen noch hinzufügen. Jetzt war er wieder der, so wie ihn seine Kollegen kennen – der beste und bekannteste Zyniker in Vesberg.
„Hier können wir nichts mehr ausrichten. Jutta, Sie fahren mich nach Hause und halten dann die Stellung in der Arkadenstraße. Wir treffen uns später dort.“ Vielleicht fiel noch etwas Schlaf für ihn ab. Remsen fühlte sich hundemüde.
„Günther ich will, dass bei Tagesanbruch das ganze Programm anläuft. Also mit Rekonstruktion des Tathergangs, Untersuchung der Unfallstelle, Durchkämen des Waldes bis zur Autobahn, Hubschrauber mit Wärmebild, KTU vom Unfallwagen, Abschlussbericht der Obduktion. Die Straße bleibt komplett gesperrt. Sobald ihr was rausbekommen habt, will ich es wissen. Abfahrt Jutta.“
Auf der Rückfahrt dudelte das Radio. Beide hingen ihren Gedanken nach, wollten sich erst einmal ihre Theorien selbst zurechtlegen, Wissen und Spekulationen voneinander trennen. Für diese Konzentrationsübung braucht es keine Gesprächspartner. Jutta Kundoban lernte recht früh, dass die Klarheit der eigenen Überlegungen immer auch gut für den Fall und die immer notwendige Selbstdarstellung ist. Also suchte keiner von beiden das Gespräch.
Jutta kannte Remsens Adresse ohnehin, sodass es keinen Grund für irgendwelche Kommunikation gab.
Remsen bewohnte eine geräumige Dachgeschosswohnung, eine 3-Raumwohnung wie man hier sagt, in einem, gut einhundert Jahre alten Haus. Entweder hatte es den Krieg überstanden oder es mit wenig Liebe zum Detail danach wiederaufgebaut. Altbau eben, funktional und in die Jahre gekommen. Für Remsen war es ausreichend, denn die Wohnung hatte neben der Nähe zum Refill durchaus ihre Vorteile. Sie lag in einer ruhigen Nebenstraße, in der es immer Parkplätze gab. Seine Wohnung im Dachgeschoß war die einzige Wohnung. Damit verschonte er seine Nachbarn von seinen musikalischen Vorlieben, wenn er nachts und ohne Ohrschützer in diese, in seine Welt abtauchte.
Noch im Mantel suchte er gezielt in seiner Vinylsammlung nach einem seiner Lieblingsalben; genau die richtige Platte für jetzt. Gefunden! Van Morrisons „Astral Weeks“ sollte es sein. So richtig schon laut, wie immer auf dem Boden liegend, wollte er seine Gedanken sortieren. Zweimal dreißig Minuten, dann unter die Dusche und ab in die W36, sein Büro wie er die Wache in der Arkadenstraße nannte.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Obwohl…
Van Morrison versuchte sich an „In The Beginning“. Dazu röhrte ein Hirsch in weiter Ferne Was für ein Exemplar? Wollen wir ihn gleich erledigen? Die blonde Russin neben ihm vertrat die Absicht, mit dem Wagen weiter heranzufahren. Warum ist Van Morrison so leise. Ja, vielleicht steht der Hirsch wieder auf und reitet mit uns weg. Und überhaupt, wo kommt das viele Blut an der Russin her?
Sein Telefon weckte ihn unsanft.
Remsen fand den Hörer erstaunlich schnell und öffnete nur rein mechanisch den Mund: „Ja?“
„Jan, wir haben jede Menge Arbeit.“ Jutta Kundoban klang etwas gehetzt.
„Ja, ja, ich weiß. Muss wohl eingeschlafen sein. Ich komm gleich“. Remsen war es sichtlich peinlich, dass seine Selbstdisziplin nicht mal die erste Seite von „Astral Weeks“ überdauerte.
„Wir haben eine zweite Leiche.“ Jutta musste es schnell loswerden.
„Noch eine Frau? Wieder aus Osteuropa? Oder jetzt zur Abwechslung mal ein Elch?“ Remsen hatte sich erstaunlich schnell wieder im Griff und mit Sarkasmus gewürzt fanden seine Gedanken ungeprüft und ganz spontan den Weg in das Telefon.
„Wir sehen uns an der Unfallstelle Jan. Sie wissen wo.“ Jutta Kundoban wurde sauer, weil Remsen sie nicht ernst genommen hatte. Und sie tat etwas Mutiges– sie legte einfach auf.
„Okay,