Träum süß stirb schnell. Marianne Rauch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marianne Rauch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776556
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drang wie durch einen Wattebausch an Yakidos Ohr, bemüht, ihr Bewusstsein zu erreichen.

      Yakido war weit weg gewesen. Der Ärztin gelang es tatsächlich, dieses tief in ihrer Patientin vergrabene Erlebnis wach zu rufen, es aus ihr heraus zu locken.

      Während Yakido sich erinnerte, vergaß sie völlig, wo sie sich befand. Hier in diesem Raum fühlte sie sich eigenartig geborgen. Eine behagliche Atmosphäre, dominiert vom wuchtigen Schreibtisch, auf dem ein Arrangement aus getrockneten Feldblumen thronte, aus deren Mitte filigrane Gräser hervorlugten.

      Doch nun beförderte die Frau hinter dem imposanten Tisch Yakido zurück in die Gegenwart. Ihr verständnisvoller Blick ruhte auf ihrem Schützling. Kein Wort entging ihrer Aufmerksamkeit. Schließlich nickte sie.

      Yakidos Mund war wie ausgetrocknet. Sie griff nach dem gefüllten Glas Wasser, welches die Ärztin ihr reichte, räusperte sich und schaute zu Boden.

      „Es ist schon so lange her. So entsetzlich lange.“

      Wie kläglich empfand sich Yakido nun, zusammengesunken auf einem der Stühle, der ihr heute das Empfinden gab, auf einer Anklagebank zu sitzen.

      „Wie fühlen Sie sich, Frau Schwarz?“

      In der Hoffnung, ihr Zittern würde den geschulten Augen der Ärztin entgehen, verschränkte Yakido die Arme, den Blick immer noch Richtung Boden.

      „Ich fühle mich leer, unendlich leer.“

      „Das ist in Ordnung so, Frau Schwarz“, erwiderte Frau Dr. Neuenhagen.

      Sie zog den zweiten Stuhl heran, um sich neben ihre Patientin zu setzen.

      „Es ist so lange her. Ich hielt es für einen Segen, die Erinnerung daran aus meinem Gedächtnis zu verbannen.“

      Yakido nippte erneut am Wasserglas.

      „Kleines Engelchen“, murmelte sie leise. Gleichzeitig spürte sie die schmerzvolle Sehnsucht, ihre Mutter würde sie jemals wieder so nennen. Sofort hakte die Psychologin ein.

      „Das ist wirklich völlig okay, Frau Schwarz, glauben Sie mir. Sie haben es nicht vergessen, die Erinnerung daran haben Sie nur ganz tief in Ihrem Inneren verborgen. Instinktiv schützten Sie sich damit selbst.“

      „All die Jahre habe ich nicht mehr daran gedacht.“

      „Sie haben Ihre Erlebnisse verdrängt. Sie waren noch sehr jung, ein kleines Mädchen. Wie hätten Sie damals verstehen können, was Ihnen dieser Mann, und auch Ihre Mutter, antaten?“

      Mitfühlend legte die Ärztin ihre Hand auf Yakidos, die sie ihr unwillkürlich entzog.

      „Heute erinnerten Sie sich zum ersten Mal bewusst daran. Sie überwanden sogar Ihre innere Blockade, Ihr Erlebnis laut auszusprechen, einer anderen Person anzuvertrauen. Das ist mehr als bemerkenswert!“

      Die Anerkennung der Psychologin klang ehrlich und Yakido empfand sich erleichtert.

      „Sie haben sich jetzt Ruhe und Entspannung verdient. Ich rufe Larissa, sie soll Sie auf Ihr Zimmer begleiten und noch ein wenig bei Ihnen bleiben.“

      Die Frau drückte den Knopf der Gegensprechanlage. Sofort meldete sich Larissa, der gute Geist der Station. Nur Augenblicke später betrat die barsche, doch rührend besorgte Pflegerin das Sprechzimmer.

      „Wenn es Ihnen Morgen gut geht, kommen Sie wieder zu mir“, munterte die Psychologin ihre Patientin auf.

      „Jedes einzelne Wort, welches Ihre Lippen verlässt, tut Ihnen gut. Es reinigt Ihre Seele.“

      Vertrauensvoll reichte sie Yakido zum Abschied die Hand und geleitete sie zur Tür, um sie an Larissa zu übergeben.

      „Kommen Sie Frau Schwarz“, zog Larissa Yakido den Flur entlang.

      Währenddessen schrie ein Wort in Yakidos Hirn: Seele.

      Was sollte das? Hatte sie eine Seele?

      Wurde sie nicht schon längst verkauft, zum höchsten Preis?

      Am folgenden Tag zog es Yakido wieder hinunter zum Teich, auf die Parkbank hinter den Bäumen nahe der Wiese. Der Herbstwind blies die Blätter von den Zweigen. Das Geäst der Bäume wirkte kahl und trostlos. Einzig die grünen Nadeln der Tannen würden der grauen Jahreszeit etwas Farbe verleihen.

      Schnellen Schrittes eilte sie zu ihrem Lieblingsplatz. Sie hoffte, dort wieder das fremde Mädchen anzutreffen. Doch die Zeit verging, ohne dass sich jemand blicken ließ.

      Natürlich, sie musste geträumt haben! Die vielen Tabletten spielten ihr einen Streich. Fröstelnd, die Herbstsonne wärmte an diesem Tag nicht mehr, begab sie sich auf den Rückweg zur Klinik. Seit einigen Wochen befand sich dort Yakidos Zuhause. Sie wehrte sich nicht mehr dagegen.

      Kapitel 4

      Derweil in einer Stadtrandsiedlung von Berlin. Immer wieder stellte sich Bernd Fischer die gleiche Frage: Welches Schicksal trieb die geheimnisvolle Unbekannte dazu, sich die Pulsadern aufzuschneiden?

      Seit er die Mitbewohnerin aus dem achten Stock regungslos in der Badewanne fand, ging ihm die Unglückliche nicht mehr aus dem Kopf. Bei den wenigen zufälligen Begegnungen, meistens im Fahrstuhl, weckte sie jedes Mal sein Interesse. Gegen seinen Willen. Er wunderte sich selbst darüber, denn die Frau tat eigentlich nichts, was ihn dazu veranlasst hätte. Außer, ihn absolut zurückhaltend, mit einem kurzen, flüchtigen Lächeln zu bedenken. Es ärgerte ihn, doch trotzdem reichte dieses Lächeln aus, um ihn für Augenblicke zu verzücken. Nie hätte er gewagt, sie anzusprechen.

      Von der Damenwelt hielt er sich fern, lehnte weiblichen Kontakt kategorisch ab. Fischer hatte genug mit sich selbst zu tun. Er fokussierte sich auf sein Leben. Es bescherte ihm die Aufgabe, sich nach der Scheidung neu zu ordnen, mental und finanziell wieder auf die Beine zu kommen und seine innere Balance wiederzufinden. Frauen hätten dabei nur gestört, so viel war klar.

      Deshalb wählte der Versicherungsfachmann die Einsamkeit inmitten einer menschenfressenden Anonymität, hinter der sich Großstädte wie Berlin so gern verstecken. Trabantensiedlungen, Molochs des sozialen Wohnungsbaus wie in Marzahn, das Märkische Viertel oder die Gropiusstadt.

      Rückblicke in Baukünste vergangener Jahrzehnte, deren Hochhäuser potenzielle Selbstmörder anlocken. Wie Ikarus durch die Lüfte schweben. Daraus wird allerdings nichts, wenn man vom zehnten Stock wie ein nasser Sack in die Tiefe stürzt.

      Er fühlte sich wohl, so völlig zurückgezogen am Stadtrand zu leben.

      So wie Yakido.

      Seit Wochen drängte es Fischer, sie, deren Leben er rettete, zu besuchen.

      Fischer setzte seine Überredungskünste ein, denn er wollte unbedingt erfahren, wohin der Ambulanzwagen die Hoffnungslose brachte. Nach etlichen Telefonaten erhielt er endlich die ersehnte Auskunft: die Adresse der Klinik.

      Er fühlte sich unsicher, ob bereits der richtige Zeitpunkt dafür gekommen wäre. War sie soweit über den Berg, um Besuch von ihm, einem Fremden, zu empfangen? Wie würde sie auf ihn reagieren?

      Fischer verspürte ein Ziehen in der Magengegend. Er wusste genau, weshalb er die Unbekannte mit dem sanften Lächeln nie angesprochen hatte. Diese Frau strahlte auf ihn etwas aus, was ihm hätte gefährlich werden können.

      In Yakidos Zimmer läutete das Haustelefon. Sie erschrak. Augenblicklich riss sie den Hörer von der Gabel.

      „Ja bitte?“

      „Hier ist Larissa. Frau Schwarz, für Sie hat sich Besuch angekündigt. Gegen 16.00 Uhr möchte Sie ein Mitbewohner aus Berlin beehren.“

      „Mitbewohner aus Berlin?“, wunderte sich Yakido.

      „Wer soll denn das sein?“

      „Na, der Herr Fischer! Der Mann, der den Notarzt rief. Er sagt, Sie würden ihn kennen.“

      Yakido