Träum süß stirb schnell. Marianne Rauch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marianne Rauch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742776556
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Schatten an der Patientin und nährte damit deren Widerwillen gegen die ständige Kontrolle.

      Yakido sog die milde Herbstluft ein, fühlte sich frei wie ein Vogel. Larissa, wachsam und geschäftig wie immer, lief ihr gerade über den Weg. Mit gemischten Gefühlen blickte diese ihr hinterher.

      „Wenn das mal gut geht“, murmelte sie besorgt in sich hinein.

      „Aber wenn Frau Doktor meint.“

      Kopfschüttelnd, womit die Pflegerin deutlich die Entscheidung der leitenden Psychologin missbilligte, fegte die gute Seele das erste Herbstlaub von den Stufen.

      Ein selten erlebtes Glücksgefühl erheiterte Yakido. Niemand, der in ihrer Nähe lauerte, auf jede Bewegung, auf jedes unbedachte Wort achtete, um darüber zu protokollieren und ihre Krankenakte zu füllen. Sie fühlte sich wohl, ja, fast glücklich.

      Die Blätter der Bäume rauschten im Wind. Bunte Kieselsteine knirschten unter ihren Schritten. Dem mit Mosaiksteinen gepflasterten Vorplatz der Klinik schenkte sie keine Beachtung. Stühle standen dort bereit; man nutzte offensichtlich den milden Herbsttag für eine Gruppentherapie im Freien.

      Wie sehr Yakido diese Gesprächsrunden verabscheute!

      Die frische Luft kühlte ihren Verstand. Die Sitzbank am Rande der großen Wiese, die Bäume im Rücken, den Teich vor Augen, zählte inzwischen zu Yakidos Lieblingsplätzen. Ideal, um kurze Freiheiten zu genießen, dabei die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages einzufangen sowie ihren Gedanken freien Lauf zu lassen.

      Fast wäre es ihr sogar gelungen, wäre sie nicht unerwartet gestört worden.

      „Was tust du da?“, fragte die Spaziergängerin das Mädchen, welches unvermittelt vor ihr auftauchte.

      Provozierend warf das Kind grobe Schottersteine vor Yakidos Füße. Lauernd sah es die Fremde an, wobei es bereits zum nächsten Wurf ansetzte. Aufsässig griff das Kind mit der rechten Hand in die linke, packte den restlichen Schotter und schleuderte alles zusammen in das Naturgewässer. Doch zuvor hielt es inne, um Yakido ausdruckslos anzustarren.

      Sekunden, die Yakido wie schleichende Minuten erschienen, erwiderte die Patientin den Blick, hielt diesen durchdringenden, stumpfen Augen stand. Wer war dieses Mädchen, woher kam sie? Weit und breit konnte sie niemanden entdecken, zu dem es hätte gehören können. Wie alt mochte es gewesen sein? Zwölf oder dreizehn vielleicht?

      Bevor Yakido auch nur ein weiteres Wort heraus brachte, begann das Mädchen zu lachen. Gleichzeitig rannte es davon. Lange sah Yakido ihr nach, doch schien sich ihre Gestalt aufzulösen, wie von Geisterhand zu verschwinden.

      Yakido spürte, wie Ärger in ihr hochkroch und versuchte, den Vorfall zu verdrängen. Und doch hämmerte die Erinnerung an das mädchenhafte Gesicht mit den stummen Augen in ihrem Kopf.

      Warum starrte dieses Kind die ihr fremde Frau so unverblümt an? Was hatte es gesehen? Konnte es in deren Seele schauen, etwa bis auf den Abgrund ihres Herzens?

      Die Stille an diesem friedlichen Herbsttag dröhnte Yakido plötzlich in den Ohren. Gedankenverloren blieb sie noch eine Weile sitzen. Sie fühlte sich seltsam ertappt, wie bei einer Lüge erwischt. Spürte das unsinnige Bedürfnis, sich über ihr Dasein zu rechtfertigen.

      Doch warum? Waren nicht alle Fäden vorbestimmt, an denen ein anderer zog? Oder war sie nur zu schwach, ihr Leben, das für sie so enttäuschend begann, selbst in die Hand zu nehmen? Es in eine andere Richtung zu lenken?

       Egal, auf der Sonnenseite stehen sowieso immer nur die anderen.

      Solange Yakido sich erinnerte, schob sie Unangenehmes in das Sicherheitssystem ihres Gehirns. Es funktionierte ausgezeichnet. Ihr imaginärer Kippschalter blendete die schlechten Erlebnisse aus. Keine undichten Stellen, durch die sich mühselig Verdrängtes aus dem Dunkeln in ihr Bewusstsein einnisten konnte. Oder mutierte ihre scheinbar perfekte Taktik zum hinterhältigen Missbrauch als Speicherchip? Ahnte sie nicht, welch böse Saat gesät, welch teuflische Früchte sie einst ernten würde?

      Gefühl entwickelte sich für Yakido zum Fremdwort, zu einem Luxus, den sie sich nicht leisten konnte. Auf Emotionen hereinzufallen, auch wenn sie noch so echt erscheinen mochten, wäre ein fataler Fehler gewesen.

      Nun reichte ein kurzer Moment aus, ihr sorgfältig unter Verschluss gehaltenes Sicherheitssystem ins Wanken zu bringen.

      Niemanden gewährte Yakido Einblick in ihre Seele. Dem Mädchen nicht, den Freiern nicht und erst recht nicht dieser Frau Doktor, die Psychologin. Das sind die Schlimmsten! Die sind doch alle gleich, meinen, sie könnten in Menschen wie in einem offenen Buch lesen, sie analysieren, um dann zu sagen, was gut oder schlecht ist. Wer will das schon wissen!

      Nein. Yakido gehörte sich selbst!

      Kapitel 2

      „Die Männer lieben mit dem Schwanz“.

      Seit Yakido denken konnte, redete ihre Mutter ihr diesen Satz ein. Resigniert, verbittert, mit Zorn in der Stimme.

      „Und gutes Essen. Dann geben sie dir alles, was sie haben. Also mein Engelchen, mach die Beine hübsch breit und hauch den Herren Liebe ins Ohr. Yakido, glaube mir, einfacher kannst du nicht für dich sorgen.“

      Eine gut gemeinte Empfehlung, die sie der Tochter eindringlich ans Herz legte.

      „Männer sind so einfach gestrickt. Solange sie sich im Bett richtig austoben können, sind sie wie kleine Jungs, die ihr Lieblingsspielzeug bekommen. Du musst nur höllisch aufpassen, dass du nicht dein Herz an so einen Kerl verlierst.“

      Oh ja, wie recht sie hatte! Den Rat nahm die Tochter an; schließlich hatte sie nichts anderes vom mütterlichen Vorbild gelernt. Hätte es eine andere Chance für Yakido gegeben?

       Chancen sind wie Sonnenaufgänge, wer zu lange wartet, verpasst sie.

      Wo hatte Yakido diese Weisheit gelesen? Wie auch immer. Sie musste für sich sorgen, also machte Yakido die Beine breit. Darin war sie eine Meisterin.

      *

      Rückblende. Hamburg 1969.

      Im mittlerweile beliebten Stadtteil Tonndorf kehrte abendliche Ruhe ein. Yakido wälzte sich auf der Matratze hin und her. Das Gewitter war vorüber gezogen. Die kindliche Angst vor dem krachenden Donnern der aufeinanderprallenden Luftströme wich allmählich dem Schlaf.

      Aufgeschreckt durch Geräusche aus dem Nebenzimmer, verkroch sich Yakido unter der Bettdecke. Doch dann erkannte sie die warme, sanfte Stimme der Mutter. Beruhigt kuschelte sich das Mädchen wieder in ihr warmes Nest, zog den kleinen abgewetzten Teddybär dicht an ihre Brust. Sogleich schlief sie erneut ein. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des schlafenden Kindes, denn es träumte von der wunderschönen Mutter. Fühlte, wie sie sich herunter beugte, um der Tochter einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Dabei die langen, dunklen Haare Yakidos Gesicht streiften. Die Mutter lachte und flüsterte:

      „Kitzeln die Feenhaare mein kleines Engelchen?“

      Der sintflutartig einsetzende Regen löste das gigantische Feuerwerk am nachtschwarzen Himmel ab. Zuckende Blitze, die die Dächer für Sekunden gespenstisch hell erleuchteten, kündigten mit ihren langen weißen, wie elektrische Fäden schimmernde Strahlen, den unausweichlich darauf folgenden, sich mit gewaltiger Wucht entladenden Donner an. Wahre Sturzbäche fielen anschließend aus den Wolken, um die Stadt innerhalb kurzer Zeit mit Wassermassen zu überfluten.

      Sirenen ertönten, die Feuerwehr rückte mehr als zweihundert mal in dieser Nacht aus, um vollgelaufene Keller auszupumpen und Straßen vom herabgefallenen Geäst zu befreien. Nach einer Stunde endete der Spuk. Nun prasselten die Regentropfen nur noch leicht gegen die Fensterscheiben, als wollten sie mit ihrem regelmäßigen und behutsamen Tröpfeln den vorangegangenen Wolkenbruch entschuldigen.

      Es war kühl in der Wohnung. Feucht und kühl. Wie oft schon hatte Yakidos Mutter den Hausmeister auf die undichten Fenster hingewiesen.