»Ich muss jetzt Schluss machen, Anne. Meine Mutter wollte mich heute Abend noch anrufen, um sich zu erkundigen, wie es mir geht.«
Die stechenden Schmerzen gaben ihr das Gefühl, ihr Kopf würde jeden Moment explodieren. Dennoch gelang es ihr, die Lüge überzeugend genug zu präsentieren, um Anne, den angeblichen menschlichen Lügendetektor, zu täuschen.
»Dann will ich nicht länger die Leitung blockieren.« Anne schien sich damit zufriedenzugeben, dass sie wenigstens den Namen des Mannes in Erfahrung gebracht hatte. »Meine drei Plagen streiten eh schon wieder. Wird Zeit, dass ich dazwischengehe, bevor wir in diesem Irrenhaus das erste Todesopfer zu beklagen haben. Aber bei unserem nächsten Telefonat musst du mir unbedingt mehr über diesen geheimnisvollen Johannes erzählen! Versprochen?«
»Versprochen. Bis dann, Anne.«
Nadine unterbrach die Verbindung, sobald ihre Freundin ihren Abschiedsgruß erwidert hatte. Sie ließ das Telefon neben sich auf die Couch fallen. Dann hob sie beide Hände und presste die Handballen gegen ihre Schläfen, als wollte sie den Schmerz zerquetschen, der dazwischen tobte. Doch selbstverständlich half das nichts. Dafür war die Qual zu groß. Alles, was ihr jetzt noch Linderung verschaffen konnte, war das Schmerzmittel.
Sie kam ächzend auf die Beine und ging ins Badezimmer. Dabei taumelte sie und musste sich mit der Hand an der Wand abstützen, um nicht hinzufallen. Ihr Gleichgewichtssinn war empfindlich gestört. Dennoch schaffte sie es ins Bad. Ohne ihrem darin gespiegelten, zu einer Fratze der Qual verzerrten Gesicht Beachtung zu schenken, öffnete sie den Spiegelschrank und entnahm ihm die Tablettenschachtel. Sie drückte eine Tablette aus der Blisterverpackung, schob sie mit zitternden Fingern in den Mund und trank Wasser direkt aus dem Hahn, um sie hinunterzuspülen.
Jedes Mal, wenn sie eine Tablette schluckte, dachte sie an die ellenlange Liste mit Nebenwirkungen und Wechselwirkungen auf dem Beipackzettel, den sie sich lieber nicht durchgelesen hatte. Im Gegensatz zu sonst wollte sie das alles gar nicht so genau wissen. Schließlich gab es momentan keine Alternative. Die einzig andere Möglichkeit hätte darin bestanden, den Schmerz zu ertragen. Doch daran wollte sie nicht einmal denken.
Sie ließ die offene Schachtel auf der Ablage des Waschbeckens liegen. Darum konnte sie sich später kümmern, sobald es ihr besser ging. Dann tappte sie auf wackligen Beinen und mit weichen Knien ins Schlafzimmer.
Dort ließ sie den Rollladen herunter und legte sich in völliger Dunkelheit aufs Bett. Anschließend hatte sie darauf gewartet, dass das Mittel seine analgetische Wirkung entfaltete und der Schmerz in ihrem Kopf gedämpft wurde.
Inzwischen wirkte das Analgetikum. Der Schmerz war zu einem erträglichen, beständigen Pochen abgeklungen.
Nadine sah auf ihre Armbanduhr. Es war vier Minuten nach der Zeit, die Johannes ihr genannt hatte. Sie kannte ihn zwar kaum, konnte sich aber nicht vorstellen, dass er sich oft verspätete. Schließlich war Zuspätkommen zutiefst rücksichtslos gegenüber dem Wartenden. Und der mitfühlende Mann, den sie heute ein bisschen näher kennengelernt hatte, würde ihrer Meinung nach nie bewusst rücksichtslos gegenüber einem seiner Mitmenschen handeln. Dazu war er zu gutherzig.
Aber wieso war er dann noch nicht hier? War ihm etwas Wichtigeres dazwischengekommen? Oder hatte er am Ende doch kalte Füße bekommen? Nadine könnte es ihm nicht einmal verübeln. Wieso sollte sich jemand, der seine fünf Sinne beisammenhatte, mit jemandem wie ihr belasten? Mit einem Menschen, der soeben erfahren hatte, dass in seinem Kopf ein inoperabler Tumor zur Untermiete wohnte, und dessen Chancen auf Heilung allenfalls im niedrigen zweistelligen Bereich lagen.
Nadine überlegte, ob sie noch länger warten oder nicht doch besser nach Hause gehen sollte. Wieso sollte sie sich hier die Beine in den Bauch stehen? Schließlich hatte sie Johannes ihre Adresse genannt. Wenn er doch noch kam – woran sie allmählich zu zweifeln begann –, wusste er, wo sie zu finden war.
Sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, als erneut ein Scheinwerferpaar um die Ecke bog und rasch näherkam. Sie beobachtete es aufmerksam und voller neu erwachter Hoffnung. Und tatsächlich, der Wagen wurde langsamer und hielt nur wenige Meter entfernt am Rand der Straße.
Nadine war sich nicht sicher, ob Johannes sie hinter dem Baum überhaupt schon entdeckt hatte. Sie hatte Angst, er könnte wieder wegfahren, wenn er sie nicht sah. Deshalb trat sie rasch nach vorn und ging eilig auf den Wagen zu. Da sie sich ihm von vorn näherte, blendeten sie die Scheinwerfer, sodass sie nicht sehen konnte, wer im Auto saß. Sobald sie neben dem Wagen angelangt war, beugte sie sich hinunter und warf durch das Beifahrerfenster einen Blick ins Innere. Sie lächelte erleichtert, als sie Johannes hinter dem Steuer entdeckte. Er hob die Hand zum Gruß, erwiderte ihr Lächeln und forderte sie auf, endlich einzusteigen. Sie folgte seiner Einladung, nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schlug die Tür zu.
»Du bist also tatsächlich gekommen«, sagte sie, nachdem sie sich begrüßt hatten, und duzte ihn unwillkürlich. Sie freute sich so sehr, ihn zu sehen, dass der stetige dumpfe Schmerz in ihrem Kopf in den Hintergrund trat und sie ihn kaum noch wahrnahm. Die Freude darüber, dass er sie nicht versetzt hatte, war stärker als jedes Schmerzmittel.
»Hast du etwa daran gezweifelt?«, fragte er, als könnte er nicht glauben, dass jemand auch nur auf so einen Gedanken kam.
Sie zuckte mit den Schultern. »Du hast dich ein paar Minuten verspätet. Da kam mir der Gedanke, du könntest es dir anders überlegt haben. Ich könnte es sogar verstehen. Wer will sich schon mit jemandem wie mir belasten? Das bringt doch nur Probleme und Sorgen.«
»Nein!« Er legte ihr die rechte Hand auf den linken Unterarm. »So etwas darfst du nicht einmal denken. Im Gegenteil. Jemand wie du ist wie ein Geschenk des Himmels für mich.«
»Ach, was redest du denn da?« Sie schüttelte den Kopf. Gleichwohl taten ihr seine Worte gut und wärmten ihr Herz.
»Nein, das meine ich völlig ernst.« Er drückte ihren Arm, als wollte er seine Worte bekräftigen. »Ich bin so froh, dass ich dir begegnet bin. Du bist ein Geschenk des Himmels. Und ein Zeichen, dass Gott meine Gebete erhört hat und meine Pläne gutheißt und tatkräftig unterstützt.«
Nadine runzelte verwirrt die Stirn. »Was meinst du damit, Johannes? Welche Pläne?«
Er schüttelte den Kopf. »Das erzähle ich dir später. Es ist alles Teil der Überraschung, die ich für dich vorbereitet habe. Und die will ich dir nicht verderben, indem ich vorher zu viel verrate. Du magst doch Überraschungen, oder?«
»Wer mag die nicht?« In Gedanken setzte sie hinzu: Solange sie positiv sind. Sie sprach es jedoch nicht aus, weil sie ihn nicht verletzen wollte. Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass ein Mann wie Johannes jemandem eine böse Überraschung bereiten könnte.
Seine vorherigen Worte fielen ihr wieder ein. Ein Geschenk des Himmels hatte er sie genannt. Damit hatte er natürlich maßlos übertrieben. Aber auf ihn traf das durchaus zu. Für sie war er tatsächlich ein Geschenk des Himmels. Denn er nahm sie so, wie sie war. Schließlich war sie seit heute so etwas wie beschädigte Ware. Dafür sorgte Mr. Tumor, wie sie die Geschwulst getauft hatte. Er hatte sich uneingeladen in ihrem Kopf eingenistet und würde sich immer weiter ausbreiten, wenn man ihm nicht mit Bestrahlung und Chemotherapie zu Leibe rückte und Einhalt gebot. Ob es allerdings letztendlich gelang, ihn zu besiegen, stand momentan noch in den Sternen. Und selbst wenn es gelingen sollte, war es bis dahin ein langer, steiniger und dornenreicher Weg.
Doch nachdem sie Johannes getroffen hatte, hatte Nadine nicht mehr so viel Angst davor, diesen Weg zu gehen. Nicht wie zu dem Zeitpunkt, als sie die Diagnose gehört und wie betäubt dem Getöse gelauscht hatte, mit dem ihre heile Welt in sich zusammengefallen war. Denn nun war sie nicht mehr allein. Jetzt würde sie den Weg gemeinsam mit Johannes gehen. Ihrem Geschenk des Himmels, nachdem der Teufel ihr zuvor eine bösartige Überraschung in Gestalt des Tumors präsentiert hatte.
Nadine wurde bewusst,