Doch diese morbiden Gedanken waren längst vergessen. Denn mit jemandem wie Johannes an ihrer Seite lohnte es sich zu kämpfen. Auch wenn der Kampf möglicherweise von vornherein zum Scheitern verurteilt war.
»Gut«, sagte Johannes und zwinkerte ihr zu. »Dann lass uns losfahren.«
»Wohin fahren wir überhaupt?«
Er schüttelte den Kopf, während er den Motor anließ. »Das erfährst du noch früh genug.«
»Kannst du mir nicht wenigstens einen winzig kleinen Tipp geben?«, bettelte Nadine und schnallte sich an.
Johannes dachte darüber nach, während er einen Blick in den Seitenspiegel warf und losfuhr. »Tut mir leid«, sagte er dann und sah sie mit einem Ausdruck des Bedauerns an. »Aber alles, was ich dir sagen könnte, würde zu viel verraten und die Überraschung verderben. Du musst einfach noch ein bisschen Geduld haben. Nur dreißig Minuten, dann sind wir da.«
»Geduld war noch nie meine Stärke«, sagte Nadine und seufzte. »Als ich ein Kind war, konnte ich es an Weihnachten und an meinem Geburtstag nicht abwarten, bis ich endlich meine Geschenke bekam. Dabei ging es weniger darum, dass ich die Geschenke früher haben wollte, sondern eher darum, endlich zu erfahren, um was es sich handelte. Deshalb machte ich mich immer schon Tage vorher auf die Suche und durchstöberte das ganze Haus, um die verpackten Geschenke zu finden. Anfangs fand ich sie auch meistens. Bis meine Eltern anfingen, sie bei Nachbarn oder Bekannten zu deponieren, und erst im allerletzten Moment ins Haus holten.« Nadine schüttelte den Kopf und schmunzelte bei der schönen Erinnerung.
»Aber damit hast du dir doch jedes Mal die Überraschung verdorben.«
»Nein«, widersprach Nadine. »Denn als ich die Geschenke fand und auspackte, war es auch eine Überraschung. Nur eben zum falschen Zeitpunkt.«
Johannes nickte. »Das stimmt auch wieder. Aber heute wirst du dich ausnahmsweise gedulden müssen. Ich bin in dieser Hinsicht unerbittlich.«
»Na schön. Dann will ich die Überraschung nicht verderben und dich nicht weiter löchern. Nicht dass du dich am Ende aus Versehen doch noch verplapperst.«
»Keine Angst, das wird schon nicht geschehen. Ich kann nämlich, wenn’s drauf ankommt, schweigen wie ein Grab.«
Sie hielt ihr Versprechen und drang nicht weiter in ihren Begleiter. Stattdessen übte sie sich in Geduld, auch wenn ihr das schwerfiel. Während Johannes den Wagen durch die Straßen lenkte, sprachen sie über unzählige belanglose Dinge. Und so verging die Zeit wie im Flug. Sie achtete nicht darauf, wohin sie fuhren. Irgendwann bemerkte Sie allerdings, dass sie die letzten Ausläufer der Großstadt hinter sich ließen und aufs Land fuhren, über das sich wie ein schwarzes Leichentuch die Nacht herabgesenkt hatte.
Nadine verzog das Gesicht. Nicht wegen des Kopfschmerzes, der vom Analgetikum halbwegs im Zaum gehalten wurde. Sondern wegen ihres morbiden Vergleichs. Wieso musste sie die Nacht ausgerechnet mit einem Leichentuch vergleichen? Abgesehen davon gab es keine schwarzen Leichentücher, oder etwa doch? Vermutlich war Mr. Tumor an all diesen morbiden Gedanken schuld. Oder die Nähe des Todes, die sie seit der Diagnose verstärkt zu spüren glaubte. Als würde der Sensenmann bereits hinter ihr stehen, die Klinge seines Arbeitsgeräts schärfen und ihr grinsend über die Schulter blicken. Sie erschauderte.
Aber ganz egal, was auch immer für diese neuartige Morbidität verantwortlich war, Nadine beschloss, in Zukunft derartige Vergleiche zu unterlassen. Auch wenn es nur in Gedanken geschah. Es wurde nämlich Zeit, wieder positiver zu denken und hoffnungsvoller auf die Zeit zu blicken, die noch vor ihr lag. Schließlich hatte sie mit Johannes an ihrer Seite jetzt allen Grund dazu.
»Sind wir bald da?«, fragte sie mit verstellter Stimme, um das nervige Quengeln eines Kindes zu imitieren.
»Nur noch ein paar Minuten«, sagte Johannes, ohne über ihren Scherz zu lachen.
Nadine wandte den Kopf und sah ihn an. Er lächelte nicht einmal, sondern machte einen angespannten und ernsthaften Eindruck. Und obwohl im Auto eine angenehme Temperatur herrschte, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Außerdem leckte er sich immer wieder nervös die Lippen.
Ihre gute Stimmung verflog ebenso rasch, wie sie entstanden war. Nadine hatte das Gefühl, in das finstere Loch aus Angst und Selbstmitleid zurückzufallen, aus dem sie sich erst vor wenigen Minuten mühsam herausgekämpft hatte.
Was war hier los? Warum war Johannes so nervös, wo sie sich allmählich dem Ziel ihrer Fahrt näherten?
Als ahnte Mr. Tumor, dass der Augenblick günstig war, um wieder die Oberhand zu gewinnen, wurde der Schmerz in ihrem Kopf intensiver. Die Wirkung der Tablette, die sie zu Hause geschluckt hatte, ließ allmählich nach. Zum Glück hatte sie in weiser Voraussicht die angebrochene Blisterverpackung mitgenommen, sodass sie im Notfall nachladen konnte.
Als Johannes abbremste, richtete Nadine ihren Blick durch die Windschutzscheibe nach vorn. Sie fuhren auf einer schmalen Landstraße, auf der um diese Zeit außer ihnen niemand unterwegs war. Dann zweigte rechts ein Schotterweg ab. Ohne zu blinken, bog Johannes ab und fuhr auf der unbefestigten Strecke weiter.
»Wir sind gleich da«, sagte er, als spürte er ihre Angst. Er wandte kurz den Blick und schenkte ihr ein Lächeln. Doch es sah nicht echt, sondern erzwungen aus.
Nach mehreren hundert Metern tauchte auf der linken Seite ein einsames Gehöft auf. Es bestand aus einem Bauernhaus, einer windschiefen Scheune und einem dritten Gebäude, das früher möglicherweise als Stall gedient hatte. Allerdings machte alles einen verlassenen Eindruck, als wäre es schon vor Jahrzehnten aufgegeben worden. Und es brannte auch nirgends Licht.
Nadine runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, welche Überraschung an diesem gottverlassenen Ort auf sie warten sollte.
»Lass dich von seinem Äußeren nicht täuschen«, sagte Johannes, der ihre Irritation gespürt haben musste. Doch ihr kam es eher so vor, als hätte er ihre Gedanken gelesen, und sie erschauderte. »Von innen sieht es ganz anders aus.«
»Und hier wartet die Überraschung auf mich, von der du gesprochen hast?«
»Natürlich. Sonst hätte ich dich doch nicht hierher gebracht.« Er verließ den Weg und fuhr auf den Hof des Anwesens, der ebenfalls gekiest war. In der Nähe des Wohnhauses brachte er den Wagen zum Stehen. Er schaltete den Motor aus und löschte die Scheinwerfer. Sofort wurde es stockdunkel. Dichte Wolken verbargen den Schein des Mondes und der Sterne.
Nadines Herzschlag beschleunigte sich unwillkürlich, während die Angst nach ihrem Herzen griff. Hatte sie etwa doch einen schweren Fehler begangen, als sie einem Mann vertraut hatte, den sie kaum kannte? Aber wie hatte sie sich so in ihm täuschen können?
»Warte eine Sekunde. Ich mache Licht.« Johannes schaltete die Innenbeleuchtung an.
Nadine legte die rechte Hand auf ihr Herz, das rasend schnell schlug. Doch die Angst, die sie in der Finsternis kurzzeitig ergriffen hatte, verflog rasch, als sie seinen bedauernden Gesichtsausdruck und die echte Sorge in seinen Augen sah.
»Tut mir leid«, sagte er, sobald er erkannt hatte, dass die Dunkelheit ihr Angst eingejagt hatte.
»Und was passiert jetzt?«, fragte sie mit zitternder Stimme. Die Überraschung musste greifbar nahe sein. Und so erfüllte sie allmählich wieder die Vorfreude auf das, was Johannes für sie vorbereitet hatte.
»Zuerst trinken wir zur Einstimmung ein Glas Sekt.«
»Sekt?« Nadine sah sich suchend im Innern des Wagens um.
»Ich hab die Flasche und die Gläser in einem Korb im Kofferraum, um zu verhindern, dass du sie zu früh entdeckst. Einen Moment, ich bin gleich wieder da.«
Er