Nachdem sie Platz genommen hatten, sprachen sie eine Weile nicht miteinander. Es war, als fühlten sie sich mit einem Mal in Gegenwart des anderen befangen. Sie gaben bei der Bedienung ihre Bestellungen auf. Und erst nachdem Johannes seinen Kaffee und Nadine ihren Cappuccino bekommen hatte, brach Nadine schließlich das Schweigen und stellte ihre Frage.
Er schüttelte den Kopf und hob fragend die Augenbrauen. »Nein. Wie kommen Sie darauf?«
»Ihre mitfühlende und sanfte Art erinnert mich an einen Priester.«
Ein wehmütiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Ich hätte liebend gern ein geistliches Amt übernommen.« Er schüttelte erneut den Kopf. »Aber es sollte nicht sein.«
»Warum nicht? Was ist passiert?«
Er senkte den Blick und sah auf die Kaffeetasse, die vor ihm stand und die er noch nicht angerührt hatte. Dann hob er den Blick wieder. Er sah sie lächelnd an und seufzte tief, bevor er antwortete: »Das ist Schnee von gestern und unwichtig. Außerdem sind wir nicht hier, um über mich zu sprechen, sondern über Sie. Wieso erzählen Sie mir nicht, welche Diagnose der Arzt Ihnen mitgeteilt hat?«
»Woher wissen Sie von der Diagnose?« Sie sah ihn misstrauisch an. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, allzu vertrauensvoll einem Fremden gegenüber zu sein.
»Wieso wären Sie sonst in der radiologischen Praxis gewesen, wenn Sie dort nicht untersucht worden sind und eine Diagnose erhalten haben. Und Ihr Zustand, als Sie wieder herauskamen, sprach gelinde gesagt Bände. Man muss daher kein Einstein sein, um eins und eins zusammenzuzählen und auf zwei zu kommen. Also erzählen Sie schon! Sie werden sehen, danach fühlen Sie sich besser.«
Nadine bezweifelte das. Wieso sollte sie sich auch nur einen Deut besser fühlen, sobald sie die niederschmetternde Diagnose in Worte gefasst hatte? Andererseits sah er sie so voller Mitgefühl an, wie sie es sich von dem Arzt in der radiologischen Praxis gewünscht hätte. Doch der war vollkommen emotionslos gewesen. Wie ein Diagnose-Roboter! Er hatte einen eiskalten Eindruck vermittelt, als er ihr das Ergebnis der Untersuchung unter Verwendung möglichst vieler unverständlicher Fachbegriffe mitgeteilt hatte. Es hatte sich für sie eher so angehört, als würde er den Wetterbericht auf Suaheli verlesen. Allerdings mit einer verheerenden Wetterprognose! Deshalb tat es jetzt auch so gut, jemandem wie Johannes gegenüberzusitzen. Er war ein Mensch, der den Eindruck erweckte, als könnte er ihre Angst und ihr Leid nicht nur nachempfinden, sondern sogar teilen. Und vielleicht hatte er ja recht, und sie fühlte sich danach tatsächlich besser.
»Seit ein paar Wochen leide ich unter mörderischen Kopfschmerzen.« Sie beobachtete den Mann aufmerksam, um zu sehen, wie er auf ihre Worte reagierte. »Außerdem war mir oft übel, vor allem bei nüchternem Magen. Und manchmal hatte ich Sehstörungen.«
Johannes verzog das Gesicht, als könnte er ihre Qualen in diesem Moment am eigenen Leib nachempfinden. »Wie furchtbar! Was unternahmen Sie gegen die Beschwerden?«
Sie senkte den Blick und sah auf ihren Cappuccino, der ebenfalls noch unberührt war. Momentan drehte sich ihr schon bei dem Gedanken, etwas zu sich zu nehmen, der Magen um.
»Ich dachte zuerst, es wäre nur eine Phase, die von selbst wieder vorübergeht. Daher nahm ich Schmerztabletten, die ich rezeptfrei in der Apotheke bekam. Doch irgendwann wirkten sie nicht mehr, und die Schmerzen wurden von Tag zu Tag heftiger. Vor allem in der Nacht quälten sie mich, sodass ich kaum noch schlafen konnte. Deshalb ging ich schließlich zu meinem Hausarzt. Der schickte mich zum Neurologen. Und der Neurologe überwies mich, nachdem ich ihm die Symptome geschildert hatte, umgehend zum MRT in die radiologische Praxis. Darüber hinaus verschrieb er mir ein stärkeres Schmerzmittel, mit dem die Schmerzen halbwegs zu ertragen sind.«
»Und was wurde bei der Magnetresonanztomografie festgestellt?« Johannes bewies mit seiner Frage, dass er die von Nadine gebrauchte Abkürzung kannte.
Die Kernspin- oder Magnetresonanztomografie, kurz MRT, ist eine Methode der modernen medizinischen Diagnostik. Mithilfe eines starken Magnetfeldes und ganz ohne Röntgenstrahlen werden dabei detailgenaue Schichtbildaufnahmen des menschlichen Körpers erzeugt.
Nadine hob den Kopf und sah Johannes an. Erneut standen ihr Tränen in den Augen. Sie verschleierten ihren Blick, sodass sie den feinfühligen Mann nur noch verschwommen sah.
»Die Untersuchung hat ergeben, dass sich in meinem Gehirn …« Sie verstummte, weil ihre Stimme versagte. Doch sie atmete einmal tief durch und zwang sich dazu, weiterzusprechen. »… eine große Geschwulst gebildet hat. Ich … Ich habe einen Gehirntumor.«
Johannes sah ebenfalls so aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Das tut mir ja so leid«, sagte er flüsternd und legte seine rechte Hand auf ihre linke.
Normalerweise betrachtete sie es als plumpe Anmache, wenn ein Mann, den sie kaum kannte, sie absichtlich berührte. Doch bei Johannes war es etwas anderes. Sie spürte, dass er es ernst meinte und keine Hintergedanken hatte. Seine Anteilnahme und sein Mitleid waren echt und kamen aus tiefstem Herzen. Deshalb sah sie seine Geste nicht als Versuch, die Situation auszunutzen und sie anzumachen, sondern als das, was sie wirklich war. Er wollte ihr durch die Berührung Trost spenden und ihr demonstrieren, dass sie nicht allein war.
Sein Verhalten rührte sie zu Tränen. Aber sie riss sich zusammen. Sie wollte nicht wieder weinen. Vor allem nicht hier in aller Öffentlichkeit. Wenn sie erst einmal damit anfing, konnte sie wahrscheinlich nicht mehr so leicht damit aufhören. Außerdem hatte sie im Sprechzimmer des Arztroboters, der sie mit seinen Gletschereisaugen die ganze Zeit nur mitleidlos angesehen hatte, schon mehr als genug Tränen vergossen.
Nadine schniefte und schluckte. »Danke.«
Johannes schüttelte den Kopf. »Sie müssen sich nicht bei mir bedanken. Das ist doch selbstverständlich.«
»Nein, das ist es nicht!«, widersprach sie heftiger, als sie es beabsichtigt hatte. Doch sie war momentan außerstande, ihre Gefühle zu kontrollieren. »Vorhin, vor der Praxis, sind Hunderte von Menschen an mir vorbeimarschiert, ohne überhaupt zu bemerken, dass es mir nicht gut geht. Sie haben es jedoch sofort gesehen und mich gefragt, ob Sie mir helfen können. Das macht Sie zu etwas ganz Besonderem.«
Johannes winkte ab. Es war ihm ersichtlich unangenehm, als etwas Besonderes bezeichnet zu werden. Vermutlich wechselte er deshalb rasch das Thema. »Kann der Tumor entfernt werden?«
Für einen winzigen Augenblick hatte Nadine das Gefühl, sein Blick bekäme bei dieser Frage etwas Lauerndes. Und seine bislang so gefühlvollen Augen erinnerten sie jäh an die kalten Augen eines hungrigen Reptils. Doch nachdem sie überrascht geblinzelt hatte, war dieser Eindruck wieder verschwunden. Daher redete sie sich ein, dass sie sich getäuscht haben musste. Stattdessen machte sie einen Lichtreflex dafür verantwortlich.
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Dann wiederholte sie die Worte des Arztes, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten: »Der Tumor liegt an einer extrem ungünstigen Stelle und ist dort nicht ohne Weiteres zugänglich. Deshalb ist er chirurgisch nicht entfernbar.«
»Wie sieht die Therapie aus?«
»Eine Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie.«
»Und die Erfolgsaussichten?«
Nadine senkte den Blick und schüttelte stumm den Kopf. Sie konnte ihm nicht antworten. Denn jetzt brach sie gegen ihren ausdrücklichen Willen doch wieder in Tränen aus.
Am Abend verließ sie ihre kleine Wohnung und horchte, ob jemand im Treppenhaus war. Erst dann eilte sie die Stufen nach unten. Sie wollte niemandem begegnen. Vor allem hatte sie keine Lust auf ein Gespräch mit einem Nachbarn, bei dem sie so tun müsste, als ginge es ihr gut und als wäre alles in bester Ordnung. Obwohl das Gegenteil der Fall war und ihr Leben seit der Diagnose am Nachmittag buchstäblich in Trümmern lag.
Außerdem hatte Johannes darauf bestanden, dass niemand sah, wie sie das Haus verließ. Er wollte ihr etwas zeigen. Und da es sich um eine Überraschung handelte, die sie auf andere Gedanken bringen sollte, durfte niemand