»Dann meinst du also, dass die Art, wie der Leichnam arrangiert wurde, ebenfalls etwas mit der Pest zu tun haben könnte?«, fragte Krieger. Der Gedanke war naheliegend. Die Seuche schien das beherrschende Thema des Täters zu sein. »Immerhin scheint der Täter davon geradezu besessen zu sein. Nennt man ein weißes Pferd nicht auch Schimmel? Dann steht der Schimmelpilz vielleicht für die Pest?« Er zuckte fragend mit den Schultern.
Anja schüttelte den Kopf. »Schimmelpilze haben nichts mit der Pest zu tun. Das eine bezeichnet eine Gruppe von Pilzen. Das andere ist eine hochgradig ansteckende Infektionskrankheit, die durch ein Bakterium übertragen wird.« Sie hatte zwar das unbestimmte Gefühl, dass es dennoch einen Zusammenhang zwischen einem weißen Pferd und der Pest geben könnte, wusste jedoch nicht, woher diese Ahnung kam. Daher behielt sie es vorerst für sich.
»Wir werden uns darüber informieren und all diesen Dingen nachgehen«, beendete Englmair das Thema. In diesem frühen Stadium brachte es nichts, unnütze Spekulationen anzustellen. »Falls es einen Zusammenhang gibt, finden wir das schon noch heraus. Erzähl uns lieber etwas über die Tote.«
»Das Wichtigste wisst ihr ohnehin schon aus der Vermisstenanzeige«, sagte Anja und gab ihm den Computerausdruck mit Nadines Daten zurück. Sie hatte ihn auf die Ablage gelegt, bevor sie sich die Tatortfotos angesehen hatte.
Englmair nahm die Blätter entgegen. Er faltete sie einmal und steckte sie zu den Fotos in die Klarsichthülle. »Dann erzähl uns das, was nicht drinsteht.«
Anja seufzte. Sie sah die verhüllte Leiche an und wandte rasch wieder den Blick ab. »Nadine Weinhart hatte einen Gehirntumor.«
»Was?«, fragte Englmair und riss überrascht die Augen auf.
Kriegers Kommentar lautete: »Ach du Scheiße!« Er stieß sich abrupt vom Seziertisch ab, als hätte die Leiche eine ansteckende Krankheit, drehte sich um und sah mit gerunzelter Stirn auf die Tote unter dem Leichentuch herab. »Das auch noch!«
Anja nickte. »Nadine klagte vor ihrem Verschwinden ein paar Wochen lang über starke Kopfschmerzen und Übelkeit, die sie vor allem in der Nacht und am Morgen quälten. Schließlich ging sie zu ihrem Hausarzt, der sie an einen Neurologen verwies. Allerdings verschwieg sie das ihrer Mutter und ihrer besten Freundin. Vermutlich, um sie nicht zu beunruhigen. Der Neurologe schickte sie in eine radiologische Praxis, die sie am Morgen ihres Verschwindens aufsuchte, um ein MRT machen zu lassen. Dabei wurde eine Geschwulst in einem schwer zugänglichen Teil ihres Gehirns entdeckt.«
»Hätte man den Tumor entfernen können?«, fragte Krieger.
Anja schüttelte den Kopf. »Nach Ansicht des Arztes, der Nadine die Diagnose mitteilte, nicht. Es blieb nur eine kombinierte Behandlung aus Bestrahlung und Chemo übrig. Aber die Heilungschancen wären auch in diesem Fall gering gewesen.«
»Und wie hat sie die Nachricht aufgenommen?«, fragte Englmair.
»Nach Aussage des Arztes hat sie es so aufgenommen, wie der überwiegende Teil aller Krebspatienten es tut. Und wie es angesichts eines theoretischen Todesurteils auch nicht anders zu erwarten ist. Ich glaube, das waren in etwa seine Worte.«
»Was für ein Arschloch!« Krieger schüttelte den Kopf. Angesichts der tödlichen Krankheit des Opfers erwies er sich als erstaunlich einfühlsam. Damit widerlegte er Anjas vorherige Behauptung, er sei gefühlsarm.
»Der Typ war so kalt wie ein Eskimohintern und hätte von daher eher Klempner als Arzt werden sollen«, sagte sie.
Die beiden Polizisten lachten. Anja kam das an diesem Ort und in Gesellschaft einer Leiche unpassend vor. Dennoch musste auch sie schmunzeln, bevor sie mit ihrem Bericht fortfuhr: »Am Abend telefonierte Nadine sowohl mit ihrer Mutter als auch mit ihrer Freundin Anne. Sie erzählte allerdings keinem von dem Tumor, sondern spielte die Sache mit den Kopfschmerzen herunter. Danach hatte niemand mehr Kontakt zu ihr.«
»Außer dem Irren, der das mit ihr angestellt hat«, sagte Krieger und zeigte auf die verhüllte Leiche.
»Hatte sie keinen Ehemann oder Freund?«, fragte Englmair.
»Sie war nie verheiratet und trennte sich vor acht Monaten von ihrem letzten Freund. Danach war sie alleinstehend.«
»Und seitdem kein einziger Mann in ihrem Leben?« Krieger sah Anja an, als wollte sie ihn verarschen.
»Wenn, dann hätte sie ihrer besten Freundin etwas davon gesagt. Die beiden erzählten sich alles.«
»Von dem Tumor hat sie ihr auch nichts gesagt«, schränkte Englmair ein.
Anja nickte. »Allerdings sagte sie bei ihrem letzten Telefonat etwas von einem Mann, den sie kennengelernt habe. Sie nannte sogar einen Namen: Johannes.«
»Und?«, fragte Englmair. »Was hast du über den Typen herausgefunden?«
»Absolut nichts! Es kam mir schon so vor, als hätte Nadine ihrer Freundin nur etwas vorgeflunkert, um sie auf diese Weise davon abzuhalten, Fragen über ihre Kopfschmerzen zu stellen. Denn niemand, den ich befragte – weder ihre Bekannten noch ihre Arbeitskollegen oder die Wohnungsnachbarn –, hat diesen mysteriösen Johannes gesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen. Und mehr als seinen Namen offenbarte sie nicht einmal ihrer besten Freundin.«
»Eine Sackgasse also«, konstatierte Englmair.
»Im wahrsten Sinne des Wortes. Allerdings ging ich, nachdem ich Nadines Krankengeschichte in Erfahrung gebracht hatte, ohnehin davon aus, dass sie dem Tumor zuvorkommen wollte und ihrem Leben selbst ein Ende bereitet hat. Insgeheim rechnete ich daher schon die ganze Zeit damit, dass man früher oder später ihre Leiche finden würde.«
»Was nun ja auch geschehen ist«, meinte Krieger trocken.
Anja nickte. Sie vermied weiterhin jeden unnötigen Blick auf die tote Frau. »Allerdings rechnete ich natürlich nicht damit, dass sie in einem derartigen Zustand wiederauftauchen würde. Abgemagert bis auf die Knochen, mit nachgemachten Pestbeulen übersät und an ein Karussellpferd gebunden.«
Krieger nickte. »Wie ich am Telefon schon sagte: Suizid sieht anders aus.«
Keiner der Anwesenden wusste das besser als Anja. Doch sie verzichtete auf einen entsprechenden Kommentar.
»Sie war Krankenschwester, nicht wahr?«, fragte Englmair.
Anja nickte nur. Nadines Beruf stand schließlich auf dem Computerausdruck.
»Passt sogar irgendwie zur Pest. Findet ihr nicht? Immerhin handelt es sich dabei um eine Krankheit«, sagte Englmair.
»Stimmt.« Anja war dieser Zusammenhang noch gar nicht aufgefallen.
»Und ihr weißblondes Haar passt zur Farbe des Pferdes«, ergänzte Krieger, als wollte er nicht ins Hintertreffen geraten und eine ebenso scharfsinnige Beobachtung beisteuern. Doch die Kollegen reagierten nicht darauf.
»Wo arbeitete sie?«, fragte Englmair stattdessen.
»Im Klinikum Großhadern.«
Krieger hob überrascht die Augenbrauen. »Ach nee! Arbeitet da nicht auch dein Ex-Göttergatte?«
Anja sah ihn einen Moment lang irritiert an, bevor sie begriff, worauf er hinauswollte. Erst dann erkannte sie verblüfft, dass er recht hatte. Ihr selbst war das bislang noch gar nicht aufgefallen. Weder als sie die Vermisstenmeldung auf den Tisch bekommen hatte, noch bei dem Gespräch mit Nadines Mutter oder bei der Befragung der Kolleginnen und Kollegen im Klinikum.
Zu der Zeit hatte Fabian nämlich endlich damit aufgehört, sie anzurufen, ihr aufzulauern, ihr Blumen zu schicken oder sie auf sonstige Weise davon zu überzeugen, dass sie zu ihm zurückkehren sollte. Und Anja hatte sich daraufhin bemüht, ihn vollständig aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie wollte ihn einfach nur vergessen und endlich über das Scheitern ihrer Ehe und die Trennung hinwegkommen. Und so wie es aussah, war ihr zumindest Ersteres verdammt