DER ABGRUND JENSEITS DES TODES. Eberhard Weidner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eberhard Weidner
Издательство: Bookwire
Серия: Anja Spangenberg
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214309
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erzählte Mona ihm von den Kopfschmerzen, der Übelkeit, den Besuchen bei den Ärzten und dem gestrigen MRT-Termin in der radiologischen Praxis. All dies ließ sie sehr wohl um Leib und Leben ihrer Tochter fürchten. Doch das überzeugte den Beamten am anderen Ende der Leitung ebenfalls nicht, da sie momentan noch nichts Konkreteres vorweisen konnte.

      »Im Gegensatz zu Kindern«, sagte POM Fischer, »dürfen Erwachsene, die im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, ihren Aufenthaltsort frei bestimmen, ohne ihn Angehörigen oder Freunden mitteilen zu müssen. Es ist dann nicht die Aufgabe der Polizei, ihren Aufenthaltsort zu ermitteln. Zumindest solange keine gesicherten Erkenntnisse über eine Gefahr für Leib und Leben vorliegen.«

      Mona hatte in diesem Moment gute Lust, den Polizisten anzuflehen oder anzuschreien. Sie konnte sich aber nicht entscheiden, welcher Reaktion sie den Vorzug geben sollte.

      »Allerdings«, fügte er hinzu, bevor sie eine Entscheidung fällen konnte, »ist jeder Polizeibeamte zur Entgegennahme von Anzeigen über vermisste Personen und zur Einleitung von Sofortmaßnahmen verpflichtet. Und da ich nicht hundertprozentig ausschließen kann, dass das Ergebnis der MRT-Untersuchung Nadine zu einer Kurzschlusshandlung verleitet hat, werde ich Ihre Vermisstenanzeige aufnehmen und erste Fahndungsmaßnahmen einleiten.«

      Mona war erleichtert und bedankte sich. Sie selbst konnte schließlich nicht mehr tun, um Nadine zu finden, als sie bislang schon getan hatte. Aber wenn sich die Polizei endlich der Sache annahm, musste doch bald etwas dabei herauskommen. Oder etwa nicht?

      In der nächsten halben Stunde ließ sich der Polizeibeamte sämtliche Personalien und eine detaillierte Personenbeschreibung ihrer Tochter geben. Er fragte noch einmal nach den konkreten Umständen des Falls, die er direkt in den Computer eingab, denn sie konnte das Klicken der Tasten hören. Dann erkundigte er sich, welche Maßnahmen sie selbst ergriffen habe. Und auf die Frage nach möglichen Ursachen oder Beweggründen für Nadines Verschwinden konnte sie nur erneut auf ihre Beschwerden und die gestrige Untersuchung hinweisen.

      Nachdem sie alle erforderlichen Angaben zur Vermisstenanzeige gemacht hatte, bat der Polizist sie, ein aktuelles Foto ihrer Tochter vorbeizubringen, falls Nadine in zwei Tagen noch immer nicht aufgetaucht sein sollte.

      »Welche Maßnahmen werden Sie denn nun konkret einleiten?«, fragte Mona.

      »Wegen der momentan noch nicht ersichtlichen Gefahr für Leib und Leben ihrer Tochter kann ich leider keine umfassenden Fahndungsmaßnahmen in die Wege leiten«, erklärte Fischer. »Ich werde allerdings sämtliche Kollegen, die im Großraum München auf Streife sind, darum bitten, nach einer Frau Ausschau zu halten, auf die Nadines Beschreibung passt. Außerdem werde ich alle Krankenhäuser, Rettungsleitstellen und Strafanstalten im München kontaktieren und auf eine eventuelle Einlieferung ihrer Tochter überprüfen. Mehr kann ich aber momentan beim besten Willen nicht tun.«

      Mona bedankte sich trotzdem noch einmal überschwänglich bei ihm. Sie war so froh, dass sich endlich eine kompetente Person mit dem Verschwinden ihrer Tochter befasste, dass sie sogar in Tränen ausbrach. Erstaunt fragte sie sich, warum das so lange gedauert hatte und sie nicht schon viel früher zu weinen angefangen hatte. Doch dann wurde ihr klar, dass sie soeben die Verantwortung für die Suche nach ihrer Tochter abgegeben hatte. Jetzt, nachdem ihr diese Bürde von den Schultern genommen worden war, musste sich nicht länger stark sein, sondern konnte ihren angestauten Gefühlen endlich freien Lauf lassen.

      Der Polizist sprach beruhigend auf sie ein. Er bemühte sich, ihr die Angst zu nehmen, indem er ihr erklärte, dass die meisten Vermissten schon nach wenigen Tagen wieder wohlbehalten auftauchten. »Oft verlassen sie freiwillig ihren gewohnten Lebenskreis, um sich eine kurze Auszeit von ihren Alltagsproblemen und -sorgen zu nehmen. Und so, wie Sie mir den Zustand von Nadines Wohnung geschildert haben, sieht es für mich ganz danach aus, als sei das einer dieser Fälle. Gewiss wird sich Ihre Tochter schon bald, vielleicht sogar noch heute, bei Ihnen melden.«

      Allmählich beruhigte sich Mona, und ihre Tränen versiegten. Allerdings lag das nicht an den Worten des Mannes, sosehr er sich auch bemühte, ihr die Sorgen und Ängste zu nehmen. Doch das war nicht seine Schuld. Es war ihre eigene. Denn sie konnte noch immer nicht glauben, dass Nadine einfach verschwunden war, ohne jemandem Bescheid zu geben. So rücksichtslos und egoistisch war ihre Tochter nicht. So war sie von Mona und ihrem Mann auch nicht erzogen worden. Selbst wenn die MRT-Untersuchung etwas Besorgniserregendes ergeben hatte, wäre sie nicht einfach davongelaufen. Ganz abgesehen davon konnte man vor gesundheitlichen Problemen nicht weglaufen. Sie begleiteten einen überallhin. Nein, Mona war weiterhin davon überzeugt, dass mehr hinter Nadines Verschwinden steckte und dass ihr – Gott behüte! – etwas zugestoßen war.

      »Ich gebe Ihnen sofort Bescheid, sollte ich etwas über Nadines Schicksal oder Verbleib erfahren«, versprach der Polizeibeamte. »Im Gegenzug kontaktieren Sie mich bitte umgehend, sobald Nadine auftaucht oder sich meldet. Und rufen Sie mich bitte an, wenn Sie das Ergebnis der MRT-Untersuchung vorliegen haben.«

      Sie verabschiedeten sich voneinander. Danach war Mona wieder allein mit ihren Ängsten, während die Maschinerie der ersten Fahndungsmaßnahmen in Gang gesetzt wurde.

      Nachdem sie die Verantwortung für die Suche nach ihrer Tochter auf jemand anderen übertragen hatte, wusste Mona nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Sie machte sich eine Tasse löslichen koffeinfreien Kaffee. Dann begann sie, das Haus zu putzen. So hatte sie wenigstens etwas Sinnvolles zu tun. Allerdings entfernte sie sich dabei nie weit vom Telefon. Sie wollte sofort am Apparat sein, falls Nadine, der Polizist oder Anne anrief.

      III

      Das Telefon klingelte erst am späten Vormittag des nächsten Tages. Mona eilte zum Gerät und nahm mit zitternder Hand ab. Aber es war keine der erhofften Personen, sondern nur der Neurologe am Apparat. Er erkundigte sich zunächst, ob Nadine noch immer verschwunden sei.

      »Ja«, sagte Mona mit zitternder Stimme.

      Sie hatte eine furchtbare Nacht hinter sich und kaum Schlaf gefunden. Ständig schreckte sie auf und glaubte, das Klingeln des Telefons oder das Geräusch des Schlüssels im Schloss hätte sie geweckt. Doch jedes Mal, wenn sie ihren Morgenmantel überzog und nach unten ging, um nachzusehen, stellte es sich als falscher Alarm heraus. Um fünf Uhr morgens gab sie auf und stand auf.

      Noch bevor sie in die Küche ging, um sich Kaffee und Frühstück zu bereiten, nahm sie den Hörer des Telefons ab und wählte Nadines Nummer. Nach dem sechsten Läuten nahm der Anrufbeantworter das Gespräch entgegen. Sie legte nicht gleich auf, sondern hörte sich Nadines aufgezeichnete Stimme an, die erklärte, dass sie momentan nicht ans Telefon kommen könne, und den Anrufer bat, eine kurze Nachricht zu hinterlassen. Erst als die Ansage vorüber war, legte Mona auf. Wozu hätte sie auch eine Nachricht hinterlassen sollen? Das hätte ihr nur noch mehr verdeutlicht, dass Nadine verschwunden war und niemand wusste, wo sie steckte. Und was hätte sie sagen sollen? Schatz! Ich bin’s, deine Mutter. Melde dich doch bitte umgehend, sobald du wieder zu Hause bist. Unter normalen Umständen hätte sie das sicherlich getan. Doch angesichts dessen, was sie befürchtete, wäre sie sich dabei lächerlich vorgekommen. Also wischte sie sich nur die Tränen aus den Augen und schlurfte mit kraftlosen Schritten in die Küche.

      Den ganzen Vormittag war sie ruhelos und konnte keine fünf Minuten am Stück stillsitzen. Ständig ging sie zum Telefon, nahm den Hörer ab und überzeugte sich davon, dass sie das Freizeichen hören konnte und der Apparat funktionierte. Als er schließlich klingelte, hatte sie die Hoffnung schon beinahe aufgegeben. Sie saß am Küchentisch und versuchte, ein Kreuzworträtsel zu lösen, was sie normalerweise gern und oft tat. Doch heute kam sie nicht einmal auf die einfachsten Begriffe. Sie fühlte sich wie belämmert. Als das Telefon läutete, ließ sie vor Schreck den Kugelschreiber fallen. Sie sprang auf die Füße, sodass der Küchenstuhl hinter ihr umkippte. Aber sie kümmerte sich nicht darum, sondern eilte, so schnell ihre Beine sie trugen, in den Flur. Sie hob in der Hoffnung ab, dass es sich um Nadine handelte. Auch die Polizei oder Anne wären ihr recht gewesen, solange sie gute Neuigkeiten brachten. Doch es war nur der Facharzt für Neurologie, mit dem sie gestern gesprochen hatte.

      Sie konzentrierte sich wieder verstärkt auf die Gegenwart und das Gespräch mit dem