Der unheimliche "Erste Diener des Staates". Walter Brendel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walter Brendel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783754935156
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Formera, die damals nach Dresden verpflichtet worden war. Zwar hielt der „Soldatenkönig“ dem Sohn rasch seinen Hut vors Gesicht, doch bald danach genoss Friedrich dennoch im Bett der Formera erstmals die Gunst einer Frau.

      Zur selben Zeit verliebte er sich ernsthaft in die 20jährige Anna Katharina Orzelska (1707-1769), eine natürliche und vorn Vater legitimierte Tochter Augusts des Starken. „Sie ... fiel durch Geist, Bildung und literarische Interessen auf und ihr gutes Herz zeigte sich in ungemessener Wohltätigkeit“, heißt es von ihr (Ulrich Graf Schwerin). Eine Beschreibung, die übrigens auch wortgetreu auf Doris Ritter zutreffen könnte. Wann immer -wenn überhaupt - Frauen Zugang zu Friedrich II. fanden, mussten sie diese Eigenschaften besitzen.

      Der Abschied von Gräfin Orzelska fiel dem Prinzen so schwer, dass er nach der Ankunft in Berlin ernsthaft erkrankte. Erst als der sächsische Hof zum Gegenbesuch antrat und Anna mit von der Partie war, kam seine Gesundheit wieder ins Lot. Die Orzelska fand Mittel und Wege, sich mit dem streng Abgeschirmten zu treffen, was für sie nicht ohne Folgen blieb. Zum großen Ärger ihres Vaters August wurde Anna schwanger. Mehrfach versuchte sie, dass unerwünschte Kind abzutreiben, doch dies misslang, und schließlich gebar sie Anfang Februar 1729 einen gesunden Sohn. Da weder sie noch der mutmaßliche Erzeuger Friedrich von dieser Elternschaft begeistert waren, das Kind auch nicht offiziell anerkannt wurde, brachte man es nach Frankfurt/Oder zu einem gewissen Richter Carrel, der es aufziehen sollte.

      Danach kühlte sich die Beziehung rasch ab. Als Gräfin Orzelska abermals nach Preußen reiste, versuchte sich Friedrich vor der Begegnung zu drücken. 1730 heiratete sie Karl Ludwig von Holstein-Beck. Zu dieser Zeit war bereits Doris Ritter in das Leben des Thronfolgers getreten.

      Die Ritters waren nach ihrer Übersiedlung von Perleberg nach Potsdam in eine Dienstwohnung im „Prediger- und Schulhaus“ gezogen, die Vater Matthias als Rektor der „deutschen Schule“ (später: Gymnasium) zustand. Das vierstöckige Gebäude lag gegenüber der Ostseite der Nikolaikirche am Alten Markt und beherbergte auch die Schulräume selbst.

      Die Kirche, in der Matthias Ritter die liturgischen Gesänge leitete, war erst 1721 -1724 an Stelle eines mittelalterlichen Vorgängerbaus von Philipp Gerlach errichtet worden. Der Grundriss hatte die Form eines griechischen Kreuzes. Die heutige Gestalt der Nikolaikirche ist völlig anders, da jenes Bauwerk 1791 niederbrannte und durch ein Bauwerk Schinkels ersetzt wurde.

      Die Kantorstochter war dem Kronprinzen zunächst als Solosängerin im Gottesdienst aufgefallen, dann während eines Spaziergangs am Havelufer. Kurzerhand folgte er ihr - gemeinsam mit dem Leutnant von Ingersleben, der ihn begleitete - und klopfte an die Tür der Ritter'schen Wohnung.

      Außer Doris war niemand daheim. Sie behauptete später, bei dieser eisten Begegnung den Prinzen nicht einmal erkannt zu haben. Es kam zu einem kurzen Gespräch. Bald darauf suchte Friedlich - mal allein, mal in Gesellschaft Ingerslebens - fast täglich Doris und ihre Familie auf. Das war schon deshalb ungewöhnlich, weil der Prinz ansonsten den näheren Umgang mit Bürgerlichen weder suchte, noch dies von ihm, der Standesunterschiede wegen, erwartet wurde. Der König nannte ihn „stolz und hoffärtig“, der Historiker E. Vchse schrieb: „Friedrich ging mit Bewusstsein von dem Prinzip aus, Adel und Bürgerstand streng auseinanderzuhalten ... Er halte schon als Kronprinz ein Vorurteil gegen Bürgerliche, die er weder im Militär noch im Zivil in hohen Stellen sehen wollte.“

      Die - durch gelebte pietistischc Frömmigkeit geförderte - Harmonie innerhalb der Familie Ritter mag Friedrich angezogen haben, war es doch das genaue Gegenteil der eigenen häuslichen Verhältnisse. Hier gab es keine getrennten Hofhaltungen von Vater, Mutter und Kindern, auch war der Umgang miteinander nicht durch Regeln und Etikette versteift. Man war füreinander da und sprach offen über alles. Statt ein bis zwei Stunden täglich sahen die Kinder mindestens einen Elternteil den ganzen Tag. Es herrschte Vertrauen untereinander. Für den Prinzen erschloss sich damit eine fremde, bisher unbekannte Welt: die enge, aber wärmespendende Welt einer bürgerlichen Familie. So betrachtete Friedrich die Potsdamer Dienstwohnung, die dieses kleine Reich beherbergte, als eine Art Geborgenheit schenkendes Asyl. Zum Glück war ja der Weg vom Stadtschloss über den Alten Markt zu seinen entfernten „Nachbarn“ nicht gerade weit.

      Auch wenn Vater Matthias nicht anwesend war, wurde musiziert. Doris saß am Klavier (Voltaire, der sie in seinen Memoiren erwähnt, nennt ihr Spiel allerdings „ziemlich schlecht“) und sang, während der Prinz die Flöte blies. Darüber hinaus scheint die Kantorstochter ihm auch noch Musikunterricht gegeben zu haben, glaubt man den Aussagen des Freiherrn von Pöllnitz. Friedrich besaß großes musikalisches Talent, das ihn sogar zum Komponieren befähigte. Damit stand er in seiner Familie nicht allein: auch die Schwestern Wilhelmine und Anna Amalie waren begabt und beherrschten mehrere Instrumente. Von Anna Amalie stammt ein reichhaltiges Oeuvre an Liedern, Chorälen, Märschen, Kammermusik und Kantaten. Noch als 35Jährige nahm sie Unterricht in Kontrapunkttechnik - bei einem Schüler Bachs.

      Kompositionsunterricht war Prinz Friedrich zu der Zeit, als er Zuflucht im bürgerlichen Heim der Familie Ritter suchte, streng vom Vater verboten. Erst in seiner Rheinsberger Zeit (1733 - 1740) sollte es ihm offiziell wieder erlaubt werden, solchen Neigungen nachzugehen. Carl Heinrich Graun würde diesen Unterricht erteilen und zugleich ein kleines Kammerorchester leiten, das dem Prinzen Entspannung und Abwechslung garantierte.

      Unter den Geschenken Prinz Friedrichs an Doris und ihre Familie, die ja später protokollarisch genau aufzeichnet wurden, findet sich kein einziger Hinweis auf Noten. Sie gedruckt zu erstehen, war teuer; wer es konnte, ließ sie kopieren oder kopierte sie selbst. Also muss Friedrich, wenn er sich quer über den Alten Markt zu Doris begab, entweder seine eigenen Noten mitgebracht und wieder mit-genommen haben. (Wer hatte sie für ihn besorgt, da ihm doch „die Musik untersagt“ war und in seiner Kasse ständig Ebbe herrschte? Vielleicht hatte der Flötenlehrer J.J. Quantz seinem Schüler entsprechendes Material zurück gelassen. Oder aber die Familie erwies sich als gut ausgestattet mit dem erforderlichen Repertoire. Wir wissen, dass Friedrich sich nichts aus religiöser Musik und frommen Liedern machte - das hätte er täglich im Überfluss am Hof seines Vaters haben können. So bleibt die Antwort, dass die pietistische Familie Ritter weltoffen genug war, auch Stücke ohne geistlichen Anspruch als Noten zu besitzen und dass das gemeinsame Konzert auch als Bindemittel der Zusammengehörigkeit der Familienmitglieder untereinander angesehen wurde. Es war weltliche Musik des Barock, die hier zur Aufführung kam, gewiss auch von Bach, der damals als Thomaskantor in Leipzig wirkte und von dessen Werk Prinz Friedrich viel hielt (1747 wird er den genialen Komponisten, dann schon als König, empfangen).

      Dass Friedrich der Große selbst ein begnadeter Pianist gewesen sei, hat keiner je behauptet. Die Flöte war nun einmal das Instrument, das ihm am besten lag. Zumindest aber hatte er bereits als siebenjähriger Einblick gewonnen, als der Berliner Domorganist G. Hayne ihm einen einführenden Unterricht in das Generalbassspiel gewährte - damals noch mit ungetrübter Zustimmung des königlichen Vaters.

      Doch damit nicht genug. Weil Doris Ritter über eine Bildung verfügte, die sie über die Altersgenossinnen ihres Standes weit hinaushob, konnte sich der wissensdurstige junge Prinz bestens mit ihr unterhalten. Zeitlebens beklagte Friedrich den einseitigen Unterricht, den ihm der Vater hatte angedeihen lassen. In seinen Rheinsberger Jahren versuchte er durch eifriges Lesen im Selbstunterricht das Versäumte aufzuholen.

      Er muss Doris auch Details über das unerquickliche Leben unter der Fuchtel des Vaters anvertraut haben, denn nur so ist erklärlich, weshalb es ihm als König später so peinlich war, nach Allem, was kommen sollte, sich der Jugendfreundin zu erinnern. Mag sein, dass sich Doris ein wenig in den gut aussehenden 18Jährigen verliebte, der es überall verstand, Mitleid mit seinem Schicksal zu erwecken. Auf jeden Fall durfte sie sich durch seine Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlen. Eines aber wollte Friedrich mit Sicherheit nicht von Doris Ritter: ein schnelles sexuelles Abenteuer. Ihre Rolle war, wie wir noch sehen werden, die einer wirklichen Herzensfreundin und Duettpartnerin bei heimlich veranstalteten Hauskonzerten.

      Natürlich wussten Doris' Eltern von dieser Freundschaft und taten auch nichts, um sie zu unterbinden. Schließlich war Prinz Friedrich der künftige König des Landes; ihm konnte man schlecht die Tür weisen. Ganz offensichtlich machte der junge Mann auch keine Anstalten, Doris zu verführen.