Matthias Ritter erhielt wohl einen Wink, dass der preußische König nun, da der Sohn sich ihm vollständig unterworfen hatte, wieder zugänglicher geworden sei. Von Neubrandenburg aus richtete er ein Gnadengesuch für Doris an Friedrich Wilhelm, das dieser eigenhändig mit „Gut!“ befürwortete. Vier Wochen nach der Hochzeit des Kronprinzen wurde Doris Ritter in die Freiheit entlassen - mit Eindrücken und Erlebnissen, die sie niemals vergessen würde.
Dass der „Soldatenkönig“ das an der jungen Frau begangene Unrecht niemals einsah, zeigt die Tatsache, dass sie keinerlei Entschädigung erhielt. Der Gelehrte Formey teilt in seinen Memoiren Folgendes mit: Ein bürgerlicher Angestellter aus Stettin war auf königlichen Befehl vom Henker ausgepeitscht worden. Später stellte sich seine Unschuld heraus, worauf König Friedrich Wilhelm nicht zögerte, den Mann als Wiedergutmachung nach Berlin einzuladen und einmal an der königlichen Tafel mitspeisen zu lassen. Nichts von alledem gestand man Doris Ritter zu, deren Unschuld sich doch sogar vor der Bestrafung schon erwiesen hatte. Ob unschuldig oder nicht: allein die Tatsache, dass Doris Ritter mehrere Jahre im Zuchthaus verbracht hatte, bedeutete gesellschaftliche Ächtung. Während ihre jüngeren Schwestern sich mit angesehenen Partnern vorteilhaft verehelichten, dauerte es nach ihrer Heimkehr beinahe fünf Jahre, bis es endlich ein Mann wagte, ihr den Hof zu machen. Am 24.4. 1738 heiratete sie den Gewürzhändler Franz Heinrich Schommer (auch Schummer, Schomer oder Schommers - alle diese Schreibweisen kommen vor). Vater Matthias traute das Paar in der Neubrandenburger Marienkirche.
Elf Monate später war bereits Nachwuchs da. An ihrem 25. Geburtstag, dem 21.3.1739, hielt die glückliche Doris einen Sohn über das Taufbecken. Seine Namen erscheinen wie ein Programm: Justus (lateinisch „der Gerechte“) und Matthias nach seinem Großvater. Es folgte am 11.2.1741 ein weiterer Knabe, der Christian Friedrich genannt wurde.
Neubrandenburg lag nahe genug an preußischem Hoheitsgebiet, dass Neuigkeiten von dort nicht lange verborgen blieben. So verbreitete sich im Frühjahr 1740 auch bald, wie es um die Gesundheit König Friedrich Wilhelms stand. Im Alter von nur 51 Jahren erlag er am 31.5. der Wassersucht. Sein Sohn - jetzt Friedrich II. - bestieg als 28jähriger den Thron.
Doris Schommer hoffte wohl, dass der Jugendfreund sich an sie und das seinetwegen erlittene Unrecht erinnerte. Doch sie musste eine herbe Enttäuschung hinnehmen - wie viele andere, die Friedrich in seiner Kronprinzenzeit heimlich unterstützt hatten und nun auf Anerkennung und Gegenleistung seinerseits warteten. In dieser Hinsicht erwies sich der neue Herrscher als äußerst knauserig. Mit den Jahren zeigte sich außerdem, dass er seinem Vater charakterlich ähnlicher war als gedacht. Und je mehr er sich an den Maßstäben des einst so verhassten Vorgängers orientierte - beispielsweise das Militär besonders schätzte, Verwaltungs- und Schulreformen durchführte, umso weniger Kritik durfte an dem verstorbenen „Soldatenkönig“ geübt werden. Die Rebellion seiner Jugend und alles, was daran erinnerte, war König Friedrich schlichtweg peinlich und wurde verleugnet.
Dies führte schließlich sogar dazu, dass die offizielle Geschichtsschreibung im Sinn des Herrschers geschönt wurde. Im Band 8 der Allgemeinen preußischen Staats-Geschichte von Carl Friedrich Pauli (Halle 1769), heißt es über die Ereignisse des Sommers 1730 lediglich: „Der Kronprinz kam etwas später über Halle und Dessau in Cüstrin an. Von dem Misvernehmen, welches auf dieser Reise zwischen dem Könige und dem Kronprinzen ausgebrochen, brauchen wir um so weniger zu sagen, weil solches von keinen großen Folgen gewesen.“ Es hatte ja „nur“ seinen besten Freund den Kopf gekostet, der Vertrauten Doris drei Lebensjahre gestohlen und weiteren Menschen Verbannung und Haftstrafen eingebracht ...
Wir wissen nicht, ob Doris Schommer sich schriftlich wegen einer Entschädigung an den König wandte oder ob dieser von selbst Wiedergutmachung leisten wollte. Wieder einmal ist Voltaire die einzige Quelle, die von einer Pension für Doris berichtet. 70 ECUS seien ihr jährlich ausbezahlt worden, und zwar stets sehr pünktlich. Hier hat Voltaire offensichtlich preußisches Geld in die gängige französische Währung umgerechnet. Damals entsprachen 70 Ecus einer Summe von 210 Livres, wobei 1 Livre aus 0,30 Gramm Feingold bestand. In Frankreich konnte man für 40 Livres eine Kuh mit Kalb erwerben; eine vier- bis sechsköpfige Handwerkerfamilie benötigte jährlich etwa 1500 Livres zum Lebensunterhalt. Doris Schommers Zeitgenossen jedenfalls wunderten sich - wie wir noch sehen werden - über die geringe Unterstützung, die ihr zuteilwurde. Voltaire macht die o. e. Angaben in seinen Memoiren, um König Friedrichs Geiz zu belegen.
1742 finden wir Franz Schommer in Berlin, wo er als „Materialiste“ - sprich: Trödler und Kolonialwarenhändler- sich kaum über Wasser halten konnte. Daher wandte sich Doris schriftlich an den König und bat um Hilfe „zum Aufbau eines Handwerks“. Sie erhielt ihren Brief postwendend zurück. An den Rand hatte Friedrich gekritzelt: „Ihr König kann nicht kreditieren, es muss sich ein jeder im Leben so fügen, wie Gott es gewollt!“ So machte sich der Herrscher zu allem Unglück offenbar noch lustig über den Glauben der Pfarrerstochter.
1744 gab es in Berlin 20 Mietkutschen, deren Fahrer von 6 bis 22 Uhr unterwegs zu sein hatten. Ihre Beaufsichtigung oblag einem berittenen „Wagenkommissarius“, meist einem ehemaligen Unteroffizier, der auch die im Büro anfallenden Schreibarbeiten erledigte. Um diesen Posten bewarb sich Franz Heinrich Schommer in einem gemeinsam mit Doris verfassten Brief an den Polizeipräsidenten Karl David Kircheisen.
Bei dem Namen Schommer wurde der Beamte hellhörig: er holte wegen der Besetzung dieses eher unbedeutenden Postens schriftlich die Meinung des Königs ein. Friedrich zeigte sich großzügig und befürwortete von Potsdam aus am 2. 4. 1744 die Einstellung von Doris' Ehemann.
Leider brachte diese Arbeit dem frischgebackenen Kommissarius mehr Ehre als Geld ein. Die Kinderschar wuchs. Die Familie wohnte damals zur Miete in der Behrenstraße und gehörte zur evangelischen Kirchengemeinde von Friedrichswerder.
Im selben Haus lebte auch der Gelehrte Johann Heinrich Samuel Formey (1711-1797) mit seinen Angehörigen. Er war Sekretär und Historiograph der Königlichen Akademie der Wissenschaften und auch er erwähnt Doris Schommer in seinen Memoiren (1789): „Sie behielt ein trauriges und krankes Aussehen und ihr Haushall schien an Armut zu leiden. Ich habe nie sicher erfahren können, ob der König ihr irgendeine kleine Pension zuteil werden ließ. Wie auch immer, als ich mich eines Tages darüber mit Herrn de Mauperluis unterhielt, mehrte sich dessen Erstaunen. Am Ende rief er aus: ,Wie ist das möglich? Ich hätte sie zur Äbtissin von Quedlinburg ernannt!“
Auch Voltaire beweist, dass Doris Schommer in Berlin zwanzig Jahre nach den Ereignissen des September 1730 noch eine bekannte Person war.
Man wies den Literaten auf der Straße diskret auf sie hin. In seinen „Erinnerungen“ (1784) beschreibt er sie so: „Eine groß gewachsene Frau, hager, die einer Sybille ähnelt und keineswegs das Aussehen besaß, dass sie verdient hätte, eines Prinzen wegen ausgepeitscht zu werden.“
Zwar war die Armut, ständiger Gast im Hause Schommer, doch schaffte es das Ehepaar trotzdem, den äußeren Anschein aufrecht zu erhalten und mit gutbürgerlichen Menschen zu verkehren.
Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. hatte nie einen Krieg geführt, sein Sohn Friedrich hingegen brach bald nach seiner Thronbesteigung durch die widerrechtliche Besetzung Schlesiens einen Krieg vom Zaun, der später einen weiteren nach sich zog. Insgesamt kosteten die beiden schlesischen Kriege auf preußischer Seite etwa 6500 Menschen das Leben. Zwischen 1756 und 1763 tobte dann der Siebenjährige Krieg, in dem das Land mehrfach am Rand des Untergangs stand und mehr als 42000 Tote zu beklagen hatte. Auch Familie Schommer lebte in Angst und Schrecken. Der älteste Sohn war als Armeelieferant tätig und trug für den König seine Haut zu Markte. Laut einer heute verschollenen Handschrift der Königlichen Bibliothek soll er um eine Audienz beim Herrscher nachgesucht und um Hilfe für seine Mutter gebeten haben. Friedrich der Große wies ihm daraufhin die Tür mit den Worten: „Ich kenne Sie gar nicht.“
Berlin, Dorolheenstädtischer Friedhof an der Chauseestraße. Hier lag Doris Ritter begraben
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