Eine schwer wiegende Anklage in einer Zeit, in der in den meisten deutschen Staaten außerehelicher Geschlechtsverkehr gesetzlich verboten war und die Mütter unehelich geborener Kinder streng bestraft wurden (zumindest bei Untertanen, die nicht dem Adel angehörten; höfische Kreise setzten sich über solche Bestimmungen nonchalant hinweg). Doch eine demütigende ärztliche Untersuchung bestätigte Doris Ritters Jungfräulichkeit. Auch fand sich nicht ein einziger Beweis dafür, dass sie in die Fluchtpläne Friedrichs eingeweiht gewesen war. Mehr ist in den meisten Fällen über Dorothea Elisabeth Ritter nicht zu erfahren. Nicht einmal ihre genauen Lebensdaten waren bislang bekannt. Es hat sich auch nur ein Mal - und zwar bereits 1869 - ein Autor in wissenschaftlicher Weise mit ihr beschäftigt. Dieser Aufsatz ist kurz, teilweise fehlerhaft und tendenziös im Ton - nach dem Motto: Wenn ein Bürgermädchen sich einbildet, zur Mätresse eines Preußenprinzen aufsteigen zu können, geschieht ihr ganz recht, falls die Sache misslingt und ihr bittere Folgen einbringt.
Doch wer war Doris R.? Tatsächlich nur das unbedarfte Kantorstöchterlein, als das sie in pseudowissenschaftlichen Darstellungen und Romanen geschildert wird? Aus einer armen Lehrerfamilie, die im Obskuren verschwand, nachdem sie einen Augenblick lang grell im Schlaglicht der Geschichte stand? Was wurde aus ihr? Versuchte der Jugendfreund Friedrich nach seiner Thronbesteigung, das seinetwegen erlittene Unrecht wieder gut zu machen?
Fragen, die nicht unbeantwortet bleiben müssen. Antworten, die eine erstaunliche und interessante Geschichte enthüllen: um einen streitbaren Vater, der seines Glaubens wegen Süddeutschland verlassen musste. Um ein Mädchen, das äußerst musikalisch und hoch gebildet war: man traute ihr die wahre Verfasserschaft einer gedruckt erschienenen Kirchenpredigt zu. Und Friedrich der Große pflegte Frauen in seiner Umgebung nur zu dulden, wenn sie geistreich, musisch veranlagt und belesen waren. Es ist schließlich auch die Geschichte einer Frau, die sich allen Widrigkeiten trotzig entgegenstemmte und die selbst zwanzig Jahre nach den aufwühlenden Ereignissen von 1730 in Berlin noch Stadtgespräch war. Kein Geringerer als Voltaire würdigte sie in seinen Erinnerungen.
Matthias Rieder, Sohn der Eheleute Johann Georg und Christina Rieder, wurde am 21.2.1689 katholisch getauft. Bald darauf siedelte die Familie nach Reichling in der Nähe des Ammersees über.
Lange hielt es ihn dort nicht. Schon am 19.4.1709 finden wir ihn in Jena an der Universität, von 1711-13 aufgrund ausgezeichneter Leistungen sogar als Stipendiat.
Schließlich setzte der junge Schwabe seine Studien in Halle fort, wo er sich am 13.6. 171 3 an der erst 1664 gegründeten Universität einschrieb. Matthias war fasziniert von der aufblühenden Bewegung des Pietismus, die in Professor August Wilhelm Francke (1633-1727) einen der bedeutendsten Vertreter hatte. Pietismus: das bedeutete echte, von Herzen kommende und praktisch umgesetzte evangelische Frömmigkeit. Im Alltag der Universität hieß das, dass Francke persönlich Studienberatung und -förderung betrieb. Zugleich arbeitete er als Pfarrer an der Georgenkirche von Glaucha, damals noch eine Vorstadt von Halle. Um das dortige soziale und wirtschaftliche Elend zu lindern, rief er ab 1695 die „Franckeschen Stiftungen“ ins Leben, die mit ihren vielfältigen Einrichtungen fast schon einen Ort für sich bildeten. Der Komplex umfasste nach und nach Schulen und Seminare, ein Waisenhaus, eine Buchdruckerei (die vieles finanzierte), Bibliothek, Apotheke, ein Hospital, ein „Naturalienkabinett“, ausgedehnte Gärten und vieles mehr.
„Wer von Leipzig kommt ohne Weib, von Jena mit gesundem Leib, von Halle ungeschlagen, der kann vom Glücke sagen!“ So lautete ein unter den Lernenden des 18. Jahrhunderts verbreiteter Spruch.
Dorothea Elisabeth Ritter, genannt Dons (1714-1762). Porträtzeichnung von Elly Strick nach historischer' Vorlage
Der Student Ritter muss bereits vor seiner offiziellen Einschreibung in Halle gewohnt haben, denn er verliebte sich dort in Maria Christina Hermann, die Tochter eines aus Schneeberg nach Halle zugewanderten, verstorbenen Schuhmachers namens Samuel Hermann. Noch als Student - ungewöhnlich genug - ließ sich Matthias mit ihr trauen. Die Beiden wurden am 21.9. 1712 von Pastor Janus in der Marktkirche Unser Lieben Frauen vermählt. Möglicherweise hatte Maria Christina beim Tod ihres Vaters etwas Geld geerbt, von dem das Paar bis zum Abschluss der Studien leben konnte. Bald schon wurden sie eine Familie. Am Mittwoch, dem 21. März 1714, kam das erste Kind der Ritters zur Welt. Es war eine Tochter namens Dorothea Elisabeth. Zu gegebener Zeit sollte sie für einiges Aufsehen sorgen.
Matthias Ritter arbeitete unermüdlich, um mit seinen Studien voran zu kommen und für die Seinen eine Existenz zu schaffen. 1715 legte er bei Johann Tobias Wagener eine Disputation vor, die den Titel trug „Meditaüo de variis excitandi ad virtutem mo-dis“. Sie erschien auch gedruckt und umfasste 38 Seiten. Es schien klar, dass er nicht mehr in die ursprüngliche Heimat zurückkehren konnte. Wie viele evangelische Glaubensflüchtlinge, angefangen mit den Hugenotten, baute auch Ritter auf eine Zukunft in Preußen.
August Wilhelm Francke protegierte die Familie Ritter. Die pietistische Frömmigkeit prägte die ersten Kinderjahre der kleinen Doris. Doch es gelang ihrem Vater auch nach dem Erwerb des Magistertitels nicht, eine feste Anstellung zu finden. Er musste sich als Privatdozent durchs Leben schlagen. Währenddessen avancierte die Universität Halle immer mehr zu der preußischen Universität schlechthin, deren Absolventen mit Vorliebe in Verwaltung und Beamtenschaft eingesetzt wurden. Der neue König Friedrich Wilhelm I., der 1713 den Thron bestieg, war von großer persönlicher Frömmigkeit und folgte oft den Empfehlungen der Hallenser Theologieprofessoren, insbesondere dem von ihm geschätzten Francke, wenn es um Stellenbesetzungen ging. Franckes Schüler wurden in den Belangen von Kirche, Schule und Staatsdienst bevorzugt.
Welche Eigenschaften der preußische Regent sonst noch besaß, wurde auch in Halle bald deutlich. Er erwarb sich bald den Spitznamen „Soldatenkönig“ wegen seiner Bevorzugung des Militärs und der Aufstellung eines Regiments besonders hoch gewachsener Männer. Diese „langen Kerls“ warb man von überall her. Junge Leute wurden durch reisende Werber, oftmals mit unlauteren Mitteln, zum Soldatendienst gebracht. In Halle gab es Studentenunruhen, als Fälle von Zwangsrekrutierungen bekannt wurden.
Des Weiteren war König Friedrich Wilhelm rasch als Geizhals verschrieen. Er hatte, um die vom väterlichen Vorgänger ererbten Schulden zu tilgen, den Hofstaat drastisch reduziert. Im Alltag lebte er selbst anspruchslos und bescheiden. Sein wirtschaftliches Denken hatte für manchen unangenehme Folgen, nicht nur für die eigene, vielköpfige Familie des Herrschers (die wenig standesgemäß Hofhalten musste). Im Jahre 1716, als Johanna Rosina Ritter geboren wurde, suchte die berühmte Gräfin Cosel Zuflucht in Halle. Sie wollte dort Asyl, um der Rache ihres früheren Liebhabers zu entgehen, Kurfürst und König August der Starke. Als sie den vom „Soldatenkönig“ geforderten Preis für die Freilassung ihres inhaftierten Vetters nicht bezahlen konnte, lieferte er sie an den Herrscherkollegen aus. Für Anna Constantia von Cosel bedeutete dies fast 50 Jahre Haft auf Burg Stolpen.
Es gibt verschiedene Hinweise darauf, dass der Thronfolger ein Mensch von bisexueller Veranlagung war. Dem Leutnant Friedrich Ludwig Felix von Borcke schrieb er leidenschaftliche Briefe, wie später seinem Kammerdiener und Vertrauten Michael Gabriel Fredersdorff (auch dieser ein ausgezeichneter Flötist). Sein Verhältnis zu dem Pagen Peter Christoph von Keith verursachte hochgezogene Augenbrauen und selbst die Freundschaft zu Hans Hermann von Katte wurde mitunter aus homoerotischem Blickwinkel gesehen - wenn auch solche Bemerkungen erst nach Kattes Tod nachweisbar sind. Voltaire macht in seinen Memoiren ganz unverblümte Andeutungen über Friedrichs Neigung zu Männern.
Andererseits äußerte sich der Thronfolger in seiner Rheinsberger Zeit brieflich in oft derben Ausdrücken über die intimen Vorzüge seiner Ehefrau Elisabeth Christine. Und aus den Memoiren der Schwester Wilhelmine wissen wir um die Geschichte seiner ersten Liebe zu einer Frau.
Mit knapp 16 Jahren durfte der Prinz seinen Vater zu einem Besuch bei August dem Starken nach Dresden begleiten. Staunend nahm der junge Mann den Unterschied zwischen dem puritanischen Leben daheim und dem üppig-barocken