Selle weiß nichts zu erwidern. Er verbeugt sich und will gehen. Da fügt Frau von Kannenberg traurig noch hinzu: „Und wir könnten bei unserer dürftigen Apanage das Geld so gut brauchen!" Sie weiß, wie gern ihre einsame Herrin, den ihr Nahestehenden Geschenke gemacht hätte, aber ihre Privatschatulle erlaubt das nicht.
Ernstlich überlegt sich Dr. Selle, während er in seiner Kalesche nach Berlin zurückfährt, ob er etwas für die unglückliche Königin tun könnte. Aber was sollte das wohl sein?
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Wie es begann oder Wie vor 310 Jahren ein Kurfürst zum König wurde
Vor über Einhundertzehn Jahren, am 9. Januar 1901, schrieb Franz Mehring für „Die Neue Zeit“ einen Artikel mit dem Titel: „Der Ursprung des preußischen Königtums“ Darin hieß es: „Seitdem der 200. Geburtstag der preußischen Königskrone in Sicht ist, hat sich ein Haufe loyaler Archivare und Professoren abgemüht, das Bild des ersten Hohenzollernkönigs möglichst schön zu färben, was eine schwierige oder vielmehr eine unlösbare Aufgabe ist. Es ist unmöglich, den Berg der Verachtung fortzuwälzen, unter dem Friedrich I. bereits zu seinen Lebzeiten begraben war. Niemand hat dieser Verachtung einen kräftigeren Ausdruck gegeben als sein Enkel, der sogenannte große Friedrich. Dessen Verachtung allein genügt schon als Beweis dafür, dass nicht einmal Gründe der preußischen Staatsraison bei der Erwerbung der Königskrone mitgesprochen haben ... Allein aller Aufwand byzantinischer Geschichtsklitterei hilft nicht über die Tatsache hinweg, dass die preußische Königskrone geschaffen worden ist, um den französischen Despoten Ludwig nachzuäffen, um in der königlichen Dignität einen Vorwand zu haben, die schon von dem sogenannten großen Kurfürsten ausgemergelte Bevölkerung von einer bis zwei Millionen armen Menschen bis auf das letzte Blut in ihren Adern und das letzte Mark in ihren Knochen auszusaugen ... Alle brandenburgischen Minister und Räte waren gegen die Annahme der Königswürde, weil sie der Staatsraison nicht nur nicht entsprach, sondern selbst direkt widersprach.“
Für Mehring war der preußische Staat ein „Element der nationalen Dekomposition“, eine „feudale Ruine“, ein „mittelalterlicher Ständestaat“, eingeschachtelt in die drei Geburtstände „des allmächtigen Adels, der unmündigen Städte und der unfreien Bauern“.
Nach der Behauptung der bürgerlichen Geschichtsschreibung soll nun aber doch „ein Staat und ein deutsches Fürstentum“ den rettenden Weg aus der nationalen Misere gezeigt haben, nämlich „der preußische Staat und das hohenzollernsche Fürstenhaus“. Für diese These wurden von den preußischen Hofhistorikern zwei Legenden gebastelt, so Mehring, von denen „die ältere die nationale und die jüngere die soziale Mission der Hohenzollern in blendendes Licht stellt. ... Tatsächlich ist die eine so erfunden wie die andere.“ Doch das hindert die heutigen Preußenschwärmer nicht daran, solche Legenden, ergänzt durch die Lobpreisungen der immer wieder herbeigezauberten „preußischen Tugenden“, lauthals zu bejubeln.
Franz Mehring, ein unermüdlicher Analytiker preußisch- deutscher Zustände, stellte auch fest, dass es in der Geschichte kaum eine Klasse gibt, „die so lange Zeit so arm an Geist und Kraft und so überschwänglich reich an menschlicher Verworfenheit gewesen ist wie die deutschen Fürsten des 17. und 18. Jahrhunderts. Schamlos entartet, wälzten sie sich in allen Lastern und Sünden.“ Vertrags- und Bündnismöglichkeiten missbrauchten sie dazu, „Fleisch und Blut ihrer Untertanen an ausländische Despoten als Futter für Pulver zu verkaufen, um die Mittel für ihren prahlerischen Luxus zu gewinnen ...“ Der preußische Staat, so schlussfolgert er weiter, ist „groß geworden durch permanenten Verrat an Kaiser und Reich, durch anhaltende Verletzung von Völkerrecht und Menschenwürde, dadurch, dass sich die preußische Monarchie auf ein rein militärisches, orientalisches und despotisches Regierungssystem gegründet hatte. Der erste König dieses Systems war Friedrich I. (als Kurfürst: Friedrich III.), dessen Selbstkrönung in Königsberg zum Anlass genommen wurde, ein „Preußenjahr 2001“ auszurufen und dieses wie ein „Volksfest“ zu feiern.
Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, meinte damals: „Wenn ich alles habe, was zu der königlichen Würde gehört, auch noch mehr als andere Könige, warum soll ich dann auch nicht trachten, den Namen eines Königs zu erlangen“. In Dänemark, Schweden und Sachsen hatten sich längst gekrönte Häupter etabliert. So gab es für ihn Nachholbedarf. Er wusste wohl, dass das teuer würde und er Verbündete und Fürsprecher brauchte, die nicht umsonst zu haben waren. Die besten Vermittler saßen in Wien, am Hofe des Kaisers. Es waren der Jesuit Vota (Beichtvater des Kaisers Leopold I.) und der polnische Graf Zulinski (Bischof von Emsland). Auf deren Betreiben billigte die „ständige Staatskonferenz“ in Wien am 27. Juli 1700 die Zuerkennung einer Krone an Friedrich III. Der Kaiser hatte „nichts dagegen“, ließ jedoch keine Zweifel daran, dass an sein Entgegenkommen Bedingungen geknüpft waren. Er brauchte Soldaten. Allein die Bestechung kostete den Krönungskandidaten sechs Millionen Taler. Prinz Eugen soll dazu geäußert haben, man täte gut daran, die Befürworter dieser Krone aufzuhängen. Aber gegen alle Widerstände, auch am eigenen Hof, zelebrierte Friedrich III. am 18. Januar 1701 seine Krönung in seiner Geburtsstadt Königsberg. Von da an nannte er sich Friedrich I., König in Preußen. Anerkennung gewährten nur der österreichische Kaiser, der Zar, Polen, England, Dänemark und die Niederlande, während sich Ludwig XIV., Karl XII., der Papst und andere verweigerten.
Die Maßlosigkeit des Kurfürsten zeigte sich auch im Aufwand, der für die Krönungsfeier betrieben wurde. Für Friedrich I. war es das Ereignis des Jahrhunderts. Schon im Sommer 1700 ließ er die Ausstattung vorbereiten: Dekorationen, kostbarste Kleidung für sich und die zukünftige Königin, Kostüme für den Hofstaat, geeignete Kutschen für die lange Reise und obendrein noch die Stiftung eines neuen Ordens, des „preußischen Adlerordens“ in Schwarz und in Rot. Am 17. Dezember 1700 rollte der kurfürstliche Krönungswurm los - in einer unvorstellbaren Größenordnung. 1 800 Wagen und Kutschen ratterten nach Osten ins 600 Kilometer entfernte Königsberg: die königliche Familie, der ganze Hof, alle Würdenträger, alle Bediensteten, Köche und Künstler, militärische Bewachung, Nahrungsmittel, Getränke und das ganze Gepäck. Es müssen 3 000 bis 4 000 Personen gewesen sein, die den rollenden Hof begleitet haben. Die Jahreszeit und die Wetterbedingungen ließen nur kurze Tagesabschnitte zu. Regen, Schnee und eisige Kälte lassen darauf schließen, dass nach manchen Karambolagen die Abende in den jeweiligen Unterkünften mit heftigen Gelagen verbracht wurden. So ist es erstaunlich, dass der ganze Tross schon am 29. Dezember in Königsberg eintraf. Ein knappes halbes Jahr ununterbrochene Feierlichkeiten und Feste erwarteten ihn. Die Nacht vor dem Krönungstag war schließlich nass und kalt, voller Regen und Schnee. Am anbrechenden Tag aber schien die Sonne. Krönungswetter!
Krönungswetter herrschte also am 18. Januar 1701 in Königsberg. Das offizielle Programm ließ an verschwenderischer Opulenz nicht zu wünschen übrig: Selbstkrönung und Krönung der Kurfürstin durch Friedrich mit sehr reich ausgestatteten, teuren Kronen endeten mit einer gleich von zwei Bischöfen (die Herr Friedrich als Kurfürst noch flugs ernannt hatte) vorgenommenen Salbung, damit die neue preußische Krone mit dem Segen des „Gottesgnadentums“ erstrahlen konnte. Dieser Akt fand in einer lutherischen Kirche statt, obwohl Friedrich I. und seine Frau Calvinisten waren. Für einen fanatischen Preußenschwärmer ein bemerkenswertes Beispiel für die „preußische Tugend“ der „Toleranz“.
Nach dem ganzen offiziellen Tamtam folgte der gemütliche Teil des Krönungstages: Essen, trinken, tanzen, Ochs am Spieß, Wein aus dem Brunnen, Feuerwerk und Kanonade. Zwischen Berlin und Königsberg waren überall Tafeln mit Sinnsprüchen und Herrschaftsformeln aufgestellt. „A DEO DESTINATA“ (Von Gott gegeben), hieß es in Königsberg. In Löbenicht war zu lesen: „Des Adlers Flug ist hoch, weit höher ist der Ruhm, den unser Souverän erlangt, zum Eigenthum.“ In Friedrichswerder lautete die Formel: „TERRORI AC TU TELAE“ (Schrecken und Schutz). Und die französische Kolonie in Berlin kleidete ihre Ergebenheit in den