Es waberte miefige Luft auf den Flur des Treppenhauses. Mara wechselte von der Nasen- zur Mundatmung, was sie bedeutend erträglicher fand. »Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich vorgestern bei Suni im Krankenhaus war. Sie ist halbwegs okay, die Wunden werden heilen.«
»Das ist gut. Willst du eigentlich hereinkommen?«
Mara hielt entsetzt den Atem an.
Willi lachte. »Ein Scherz!«
Mara räusperte sich, fühlte sich ertappt. »Brauchst du irgendetwas? Ich meine …«
Willi schaute sich um. Die fünfundzwanzig Quadratmeter stellten zugleich Küche, Wohn- und Schlafzimmer dar, waren vollgestellt mit Kartons. Die vielen geleerten Flaschen, die kreuz und quer lagen, müsste er irgendwann einmal entsorgen. Dazwischen stapelten sich Pappkartons von so manchen Pizzen und leere Zigarettenschachteln. Hier spielte sich sein Leben ab, zumindest dann, wenn er nicht in der Kneipe saß. Den elektrischen Herd hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt. Sein Essen bestand vorwiegend aus alkoholischer Flüssignahrung, hin und wieder aus gefundenen Resten im Müll. Einmal in der Woche konnte er sich bei Natascha den Bauch füllen. Sie hatte ihn manches Mal als gefräßiges Krokodil betitelt, weil auch diese Tiere oft von einer einzelnen Nahrung lange zehren konnten. Vielleicht war er im vorherigen Leben tatsächlich so ein Reptil gewesen, leider wuchsen bei ihm nicht die ausgefallenen Zähne nach. Er langte an die rechte Wange, fühlte, wie sich diese im Vergleich zur linken weiter hineindrücken ließ. Mit der wöchentlichen Essensration war es nun vorbei … Ob er mit seinen wenigen Kröten auskommen würde? Willi ächzte. »Alles gut. Weißt du, wann Jasmin rauskommt?«
Mara fand es zumindest nett, dass ihm offenbar seine Nichte kümmerte und nicht völlig gleichgültig war. Obwohl sie nicht verstand, wie Willi so tief sinken und so würdelos werden konnte. Suni hatte einmal gemeint, dass viele es nicht schafften, eine Sucht zu besiegen, die körperliche Abhängigkeit nichts gegen die psychische wäre, die jeden Tag zu einem neuen Kampf machte. In Wahrheit lebte Willi trotz Minimalismus in seiner gesicherten Zone. Natascha hatte ihn nie fallen lassen, immer geholfen. Mara wusste nicht, ob sie das gekonnt hätte. Leichter wäre es bestimmt gewesen, sich abzuwenden. Dann müsste man weder sein Leid sehen, noch wäre man der eigenen Hoffnungslosigkeit ausgesetzt, weil man ihm nicht helfen konnte. Ob dieses schreckliche Erlebnis irgendetwas in ihm bewirkte? »Wahrscheinlich kommt Suni übermorgen heim, hat sie am Telefon gemeint. Sauerstoffbehandlung benötigt sie keine mehr.«
»Wenn du sie siehst, oder mit ihr telefonierst, richte ihr liebe Grüße aus.«
»Das werde ich gerne tun. Und wie gesagt …«
»Jaja«, winkte er ab. »Mach dir keine Sorgen.«
»Dann tschüss.« Mara drehte ab, schritt rasch die Stufen hinunter. Sie freute sich, als sie vor das Gebäude trat und frische Luft einatmen konnte, die sie tief inhalierte. Auf dem Weg zum VW schielte sie noch einmal zur Dachgeschosswohnung. Irgendwie hatte Willi normaler gewirkt, als sie gedacht hatte. Oder es lag daran, dass sie heute bei ihm eine halbwegs nüchterne Phase erwischt hatte. Obwohl, bei einem Spiegeltrinker konnte man nie genau sagen, wie viel er tatsächlich intus hatte. Auffällig wurden die meist erst dann, wenn es zu wenig gab.
Ob Suni die Aufgabe ihrer Mama Natascha übernehmen würde und sich auf ähnliche Weise um Willi kümmerte? Mara schüttelte den Kopf. »Zuerst muss Suni zu Kräften kommen, bevor sie ihre soziale Ader auspacken kann.« Und ihre Freundin und Willi … das war wieder ein anderes Thema, und kein einfaches!
Heimkehr in die Knittelfelder Wohnung
Mara hatte vorsorglich den Motor ihres VWs abgestellt. »Du hast zwar mein Angebot, zu uns zu kommen, ausgeschlagen, aber was ist, soll ich dich nicht besser hoch in die Wohnung begleiten?«
Ich löste den Blick von meinem blauen Skoda, der gleich an der Straßenseite parkte. So wie immer, als ob nichts vorgefallen wäre. »Bist du mir sehr böse, wenn ich verneine?«
»Nein, spinnst. Du warst schon die gesamte Fahrt so ruhig. Ich will dich nicht in deinen Gedanken stören, aber du solltest auch nicht alleine in deiner Wohnung hocken.«
Ich dachte an den Beamten Lichter, der sogar dazu geraten hatte, dass ich bei jemandem unterschlüpfen sollte. Zur Sicherheit! Aber ich brauchte eine Auszeit. Für mich, um zu trauern! Ohne Bettnachbarn, nerviger piepsiger Geräusche und mitleidigen Blicken!
Ich schöpfte nach Atem. »Ich bin aktuell keine gute Gesprächspartnerin. Ich muss zuerst meine Gedanken klären. Gib mir ein bisschen Zeit.«
Mara hob ihr Handy hoch, das in der Zwischenkonsole gelagert hatte. »Tag und Nacht jederzeit erreichbar. Du kannst mich auch anrufen und dann einfach ins Telefon schweigen. Kein Problem.«
Ich drückte ihr einen Schmatz auf die Wange. »Ich komme bestimmt darauf zurück. Danke dir, für alles.«
Ich stieg aus. Meine Freundin wartete, bis ich im Gebäude verschwunden war. Erst dann hörte ich das vertraute Motorengeräusch des VWs. Mit schweren Schritten marschierte ich in den ersten Stock, wo sich der Zugang zu meiner großzügigen Maisonettewohnung befand. Mir gefiel die Kombination aus Offenheit und dem Hauscharakter. Mit einundzwanzig Jahren war ich von daheim ausgezogen, obwohl Mamas Haus groß genug für uns beide gewesen wäre. Doch ich benötigte meinen Freiraum. Mama war stets liebevoll zu mir, aber auch sehr vereinnahmend. Das ging so weit, dass sie mein Telefon kontrollierte oder im Tagebuch las, weshalb ich das Schreiben darin aufgegeben hatte. Ich wusste, dass sie es nicht tat, weil sie mir misstraute. Sie wollte mich vor Fehler bewahren, mich beschützen und behüten wie ihren eigenen Augapfel. Dass sie dabei zuweilen über das Ziel hinausschoss, war Mama lange Zeit gar nicht bewusst gewesen. Für sie war ich das kleine Kind geblieben, das sie umsorgen wollte.
In der ersten Nacht in der eigenen Wohnung erfuhr ich, was Privatsphäre bedeutete. Lange lag ich wach, genoss die Ruhe, kein Kontrollieren, ich fühlte mich frei … Tja, und das Smartphone hatte ich vorsorglich auf stumm geschaltet, um nicht gestört zu werden und meine Grenze darzulegen.
Mit zittrigen Händen schloss ich die weiß lackierte Wohnungstür auf, um sie rasch hinter mir zuzudrücken. Insgeheim fragte ich mich, wie viel Zeit ich mit Mama verschenkt hatte, weil ich auf ein eigenes Reich pochte. Ich fühlte mich schuldig darin, dass ich nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen war. Ob ich den Brand hätte verhindern können, wenn wir zu zweit im Haus gewohnt hätten? Wer wollte Mama loswerden, hatte sie so grausam zugerichtet? Ein Bekannter, ein Fremder? Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Zumindest hatte ich durch die damalige Entscheidung, auszuziehen, jetzt noch ein Dach über dem Kopf. Das gab mir keinen Trost.
Ich steuerte in das Badezimmer zum Waschbecken, um mein Gesicht mit Wasser zu benetzen, zu kühlen und meine Tränen wegzuwaschen. Ich trocknete die verbliebenen Tropfen mit einem Handtuch, das ich aus dem Fach meines grauen Regals herausgenommen hatte. Ich seufzte, schaute mich unschlüssig um. Dieser Raum war in einem schmucken Weiß-Schwarz gehalten, wirkte wie ein überdimensionales Schachbrett. Statt Figuren gab es als Inventar eine Waschmaschine, einen Trockner und die Badezimmerkommode mit einem riesigen Spiegel. In der Ecke befand sich meine Wellnessoase – eine große Badewanne mit Massagedüsen. Mit der Wunde am Rücken durfte ich leider kein ausgiebiges Schaumbad nehmen, wo ich gerne bis zur Nasenspitze im Wasser versinken konnte.
Mein Blick glitt zurück zur Waschmaschine, vor der ein weißer Plastikbeutel lag. So wie versprochen, hatte Mara meine Sachen ins Badezimmer gebracht. Kurz zögerte ich, doch dann ließ ich mich im Schneidersitz daneben nieder, holte tief Luft und wappnete mich darauf, dass mit dem Rauchgeruch auch Bilder der schrecklichen Nacht auf mich einprasseln würden.
Ich zog die verknüpften Enden auseinander, holte meine Schwesternuniform, die aus Hose und Kasack bestand, heraus. Das Oberteil wies am Rücken ein riesiges Loch auf, dort, wo das brennende Brett mich getroffen hatte. Die Hose zeigte ebenso versengte Stellen. Da konnte eine Wäsche nichts mehr retten. Ich klappte den Mülleimer in meiner