Ich fuhr mir mit der Hand über das Gestrüpp am Hinterkopf. »Gilt dein Angebot noch für das Haare schneiden? Ich brauche etwas Veränderung. Denkst du, dass mir ein Schwarz stehen könnte?«
»Schwarz? Doch nicht dauerhaft?« Mara zog eine Augenbraue hoch. »Bist du dir sicher? So eine Farbe bekommst du nicht mehr so leicht raus, und du weißt, ein Blondieren danach könnte die Haarstruktur angreifen.«
»Jetzt, wo sich alles im Umbruch befindet, passt kein fades Blond. Und auch Mama hatte so schönes dunkles Haar …«
»Oh, ich verstehe, dadurch fühlst du dich näher mit Natascha verbunden, nicht wahr?«
Ich nickte zustimmend.
Mara klatschte in die Hände. »Dann hopp auf, Süße, lass dich überraschen und ein bisschen von mir verwöhnen!«
Onkel Willi
Ich parkte vor Willis Stammkneipe im Ort, denn bei ihm Zuhause hatte ich ihn nicht angetroffen. Sicherheitshalber befand sich etwas Hochprozentiges in meiner Tasche, was seine Gesprächigkeit im Normalfall förderte.
Tief atmete ich durch. Ich klappte den Innenspiegel im Wagen herunter, begutachtete die neue Frisur, die mir Mara verpasst hatte. Ein Tiefschwarz spiegelte sich darin. Mein Haar endete etwas über den Schultern, war schräg nach vorne geschnitten, mit feinen Abstufungen um das Gesicht. Momentan trug ich es, weil es praktischer war, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Mara hatte statt einer Permanentfarbe zu einer Tönung gegriffen, die sich nach und nach auswaschen würde. Eine umsichtige Wahl ihrerseits. Ich war dankbar dafür, dass es Mara gab! Sie war die allerbeste Freundin, die man sich wünschen konnte! Wir hatten einander in der Fachschule für wirtschaftliche Berufe kennengelernt, waren zwei pubertierende Mädels mit fünfzehn Jahren gewesen. Anfangs hatte Mara gedacht, bedingt durch den Vornamen Alsuna, ich hätte einen Migrationshintergrund und würde schlecht Deutsch sprechen. Zumindest war das für sie der naheliegendste Grund bezüglich meiner Zurückhaltung.
Als sie mich zum ersten Mal ansprach, redete sie betont langsam und versuchte, jeden Dialekt zu vermeiden, der in unseren Breiten üblicherweise verwendet wurde. Das klang seltsam und brachte mich zum Schmunzeln. Als sie mir dann auch noch Deutschhilfe in Aussicht stellte, konnte ich nicht mehr an mich halten und war wegen ihres Fehlschusses in kaum enden wollendes Gelächter ausgebrochen. Das hatte das Eis gebrochen und uns zu besten Freundinnen gemacht.
Optisch gaben wir Mädels einen totalen Kontrast ab. Mara war etwa einen Meter sechzig groß, mit fraulichen Pfündchen gesegnet und quirlig, während ich mich mit meiner schlanken Figur bewusst im Hintergrund hielt und lieber beobachtete. Häufig kam es vor, dass ich beim Fortgehen in der Disco am Rand saß, während Mara auf der Tanzfläche herumwirbelte. Oder ich umschiffte die Menschenansammlungen in der Disco gekonnt, indem ich mich in eine dunkle Ecke verzog, in der maximal Liebespärchen hockten, die von mir ohnehin keine Notiz nahmen. Genauso passte es für mich, denn ich wollte nicht im Mittelpunkt stehen, das tat ich bei meiner Mama zu Genüge. Dort im Schatten, mit der Musik im Hintergrund, das war damals mein Stückchen Freiheit gewesen.
Ich seufzte. Was würde ich jetzt für Mamas Aufmerksamkeit geben! Nie hätte ich gedacht, dass mir diese übertriebene Fürsorge einmal fehlen könnte! Ich vermisste Mama! Zittrig langte ich zu meinem Handy, öffnete die Anrufliste, sah auf ihr kleines zugeordnetes Bild – eine Aufnahme aus der Bibliothek, die mir vollgeräumte Regale mit Büchern präsentierte. In meinem Ohr hörte ich nach wie vor ihre verzweifelte Stimme.
Wütend und traurig zugleich stopfte ich das Smartphone in den Rucksack hinein. Ich wollte endlich Antworten auf meine Fragen finden! Auf zu Willi! Ich nahm die Tasche hoch, schulterte sie linksseitig und achtete darauf, dass sie nicht gegen meine Verbrennung am Rücken pendelte. An sich spürte ich die Verletzung immer weniger, doch druckempfindlich war sie nach wie vor.
Suchend trat ich in die Kneipe ein. Untertags waren kaum weitere Gäste anwesend. Willi saß in der hinteren Ecke und starrte vor sich in ein leeres Bierglas. Ich rümpfte die Nase, es roch etwas muffig und nach abgestandenem Rauch, obwohl offiziell in Kneipen-Innenräumen Rauchverbot herrschte. Langsam ging ich auf ihn zu.
Mit gedrücktem Blick schaute Willi zu mir auf. Er brauchte ein paar Momente, bis er mich erkannte, dennoch sagte er zu meinem veränderten Aussehen nichts. Stattdessen erklang ein heiseres verwaschenes: »Es tut mir leid.«
Ich nickte, sollte ihm ebenso mein Beileid ausdrücken, schaffte es nicht. Bestimmt fehlten ihm die warmen Gratis-Mahlzeiten, dachte ich verbittert. Früher hatte er hin und wieder Hilfsarbeiten angenommen, dazu hatte er sich in den letzten Jahren nicht mehr aufgerafft. Ich schielte auf seine zitternde Hand, die davon zeugte, dass er seinen gewohnten Alkoholspiegel noch nicht erreicht hatte, und ließ mich auf einen freien Stuhl ihm gegenüber nieder.
»Hast du eine Ahnung, wer das getan haben könnte?«
Willi schüttelte verneinend den Kopf. »Natascha war zu allen immer lieb und korrekt. Das hab ich auch der Polizei gesagt.«
Ich schluckte, somit hatten die Beamten ihn offenbar in einem halbwegs nüchternen Zustand vorgefunden und vernehmen können, wenn er sich daran erinnerte. Ich nestelte aus der vorderen Tasche des Rucksacks das gefundene Bild hervor und schob es ihm auf der Tischplatte zu. »Kennst du den Mann neben Mama?«
Willi keuchte erstaunt auf. »Nein!«
»Du lügst!« Die Reaktion des Onkels war zu intensiv gewesen!
»Nicht hier!«, zischte er.
»Vielleicht hilft dir die Flasche dabei, dein Erinnerungsvermögen anzukurbeln.«
Kaum hatte ich den Alkohol abgestellt, wischte er diese unwirsch von der Platte. Die Flasche zerschellte am Boden. Betroffen starrte er auf den Alkohol, der sich pfützenartig ausbreitete, ehe er emporstob, mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass er mit Mitte fünfzig nicht zum alten Eisen zählte, obwohl er deutlich älter aussah.
»He, du musst erst die Zeche bezahlen!«, rief der Wirt hinter dem Tresen. »Und verdammte Sauerei!«
»Wie viel?« Ich zog einen Fünfziger hervor. »Reicht das?«
»Für den heutigen Tag.« Brummend schnappte sich der Wirt den Schein und hatte bestimmt auch einen Putzlohn miteinberechnet.
Verärgert eilte ich dem Onkel nach. Na super – habe ich nun Mamas Stelle übernommen und werde künftig die goldene Kuh für Willi sein? Nein, das wollte ich nicht! Doch er war mein letzter lebender Verwandter, und ich kannte mich. Hängen lassen würde ich ihn nicht, allerdings hieß das keineswegs, dass ich mich ausnutzen ließe!
Ich holte Willi ein. Mein Onkel hatte vor dem Lokal gestoppt und eine Zigarette herausgezogen. Er brauchte ein paar Versuche, bis er sie mit dem Feuerzeug entfachte. »Woher hast du das Bild?«, sprach er zwischen zwei inhalierenden Atemzügen.
»Es war in Mamas Jacke, die aus purem Glück das Feuer überstanden hat. Und am Telefon hat sie mir gesagt, dass jemand gekommen ist, um sie umzubringen. Wer und weshalb? Und der Kerl am Bild hat dasselbe Muttermal wie ich! Er ist mein Vater, oder?«
Willi hielt meinen fragenden Blicken stand. Rauchte erneut, ehe er antwortete: »Die Polizei hat mir davon erzählt. Unfassbar, doch kein Unfall … Ich dachte anfangs, mein Schädel hätte sich eine absurde Geschichte ausgedacht.« Er klopfte sich mit der freien Hand seitlich gegen die Stirn.
Unruhig trat ich von einem Fuß auf den anderen, während es in seinem Kopf zu rattern schien.
Nach einem neuerlichen Zug schnippte er die Zigarette weg. »Ich weiß nur, dass der Kerl auf dem Bild aus Jugoslawien stammt, also eigentlich Slowenien. Der Krieg hat den Staat ja zerfallen lassen.«
Willi wusste etwas! Jetzt durfte ich nicht lockerlassen! »Was hatte Mutter mit ihm zu schaffen?«
»Natascha