„Schau Dir diese zwei hübschen Dinger an, wie die mit ihren Ärschlein wackeln.“ Der Glatzkopf deutete auf zwei hübsche junge Frauen, die gerade am Ausschank vorbei schlenderten. Mit diesen Worten lenkte er Öcetims Aufmerksamkeit auf andere Dinge. „Das ist es, wofür es sich zu arbeiten lohnt.“ Öcetim verstand ihn nicht recht und schaute Celso verdutzt an. „Auf Junge, noch ein Pastosaako!“ Celso bestellte nochmals zwei weitere Krüge. „Auf die Frauen“, prostete er Öcetim zu.
„Wie schon gesagt, für Erz bekommt man alles was man will“, nahm Celso den Gesprächsfaden wieder auf. „Alles!“ und damit deutete er erneut auf die beiden jungen Frauen.
„Wie kommt man zur Mine und was arbeiten die Menschen dort?“ wollte Öcetim von ihm wissen.
„Es sind nur drei Tagesmärsche bis dahin. Und die Arbeit: naja, sie ist nicht leicht, man muss kräftig sein und ausdauernd arbeiten können. Aber es gibt immer genügend zu essen und Du kannst etwas verdienen, Rad zum Beispiel.“
„Kräftig bin ich und ausdauernd arbeiten kann ich auch“.
Das war genau das, worauf Celso hinaus wollte.
„Wenn Du willst, kannst Du mit mir kommen. Übermorgen schon werde ich mit ein paar anderen Jungen in Deinem Alter dorthin aufbrechen. Wir sehen uns…“
Im Vertrauen auf eine gesicherte Zukunft, auf eine Gemeinschaft mit anderen Menschen, auf einen Platz, wo er arbeiten und leben und vielleicht auch seine Stelle im Leben finden könnte, sagte ihm Öcetim zu. Nachts in seinem Waldlager aber gingen ihm wirre Gedanken durch den Kopf. Im Traum stapfte er durch kniehohen Schlamm, dann war er in einer dunklen Höhle eingesperrt, später kämpfte er sich durch Eis und Schnee, immer wieder fallend und beinahe im tiefen Schnee versinkend, während hungrige Wölfe ihn gierig umrundeten.
Am nächsten Morgen brummte sein Schädel. An seinen Traum konnte er sich nur noch schemenhaft erinnern, doch er schien ihm ein Zeichen zu sein, besser nicht mit Celso zu den Minen zu gehen. Öcetim grübelte, wälzte die verrücktesten Ideen in seinem Kopf, konnte sich aber nicht entscheiden. Auch wenn er sich immer wieder einzureden versuchte, dass ein Besuch in der Mine ja nicht schaden könne, er diese ja zu jeder beliebigen Zeit wieder verlassen könne. Irgendein böser Geist des Zweifels nagte an ihm.
Auf seinem Weg in die Siedlung tauchte Celso plötzlich vor ihm auf. „Du schaust nicht zufrieden aus. Was bekümmert Dich, mein Freund?“ Celso schaute ihm neugierig in die Augen. „Kann ich Dir irgendwie helfen?“
ʼDen wahren Grund kann ich ihm nicht nennen,ʼ dachte Öcetim und antwortete: „Es ist ein tolles Fest, alles was man begehrt ist hier zu haben. Pastosaako, gutes Essen – und Frauen.“ Öcetim bemühte sich wie ein erfahrener Mann zu wirken, großspurig tönte er. „Nur gibt es nichts umsonst, alle wollen die komischen Rad haben.“
Celso nickte bestätigend, drängte ihm mehrere Krüge Pastosaako auf und schließlich gelang es ihm, Öcetim das Versprechen abzunehmen, sich mit ihm am nächsten Morgen zu den Minen aufzumachen.
III
Hinter jedem Gebüsch und jedem Strauch versteckte sich ein Geist. Alles war heilig, die Quellen und Flüsse, der Wind, jeder Berg und jeder Baum, die Erde, die Seen, der Mond, die Sonne, die Sterne, besonders aber der Blitz. Auch die Tiere waren heilig, vor allem Hirsche, Biber, Schlangen, Adler und Schwäne. Ihnen allen erwiesen die Menschen Ehre, denn auch gnädige Götter können zürnen.
Dank der Gunst der Götter mussten die Aschkanen keine Not leiden. Sie lebten zufrieden und ihre Familien vergrößerten sich. Sofern es Streit und Krankheiten gab, waren spezielle Mittler gefordert. Die fanden in aufwändigen Zeremonien mit Hilfe der Götter die Schuldigen und die Ursachen, auch die Wege zur Lösung dieser Probleme wurden von den Göttern aufgezeigt.
Mehrere Familien, meistens zwei bis drei Dutzend, wohnten in größeren Siedlungen zusammen. Da sie Vorratshaltung betrieben, es bei ihnen also etwas zu holen gab, mussten sie ihre Dörfer vor Dieben schützten. Sie umgaben ihre Runddörfer mit Erdwällen, mit Palisaden und Zäunen. Die überwiegend an Seen und Flüssen wohnenden Aschkanen hatten große Boote, die sie in harter Arbeit mit ihren Feuersteinbeilen aus großen Bäumen herausschlugen. Sie fischten mit Netzen und Reusen aus Weidenzweigen, benutzten aber auch Bogen und spezielle Pfeile, die nicht eine, sondern gleich drei Spitzen hatten.
Im Hauptdorf der Aschkanen lebte die Schwänin, eine allseits geachtete Frau. Aus lehmiger Erde fertigte sie wunderschöne Keramikwaren, indem sie einen Wulst Tonerde auf den anderen setzte. In ihre Gefäße ritzte sie verschlungene Muster, auch Dreiecke und einfache Symbole von Tieren und Göttern. Dafür war sie weit über ihr Gebiet hinaus berühmt, viele Henkelkrüge konnte sie gegen bunt gewebte Stoffe und manchmal auch gegen ganze Kleidungsstücke eintauschen. Immer wieder wurde sie auch zu Kranken gerufen, denn sie war eine Mittlerin und stand somit auf derselben Rangstufe wie der Häuptling des Dorfes. Der wurde allerdings immer nur für ein Jahr gewählt, während sie von den Göttern als Mittlerin zwischen ihnen und den Menschen dauerhaft auserkoren worden war.
Vor langer Zeit, sie war damals noch eine heranwachsende Frau und hatte gerade erst ihre ersten Blutungen erlebt, war sie am See zum Fischen gewesen und eingeschlafen. Ein Schwan kam auf die Schlafende zu und begann leicht an ihren Fußzehen zu knabbern. Sie erlebte diese Berührung des Tieres als würde sie zärtlich liebkost, sie stöhnte wohlig, wollte weiter träumen. Beim Erwachen jedoch sah sie einen großen weißen Schwan vor sich stehen, der ihr direkt in die Augen blickte. Das Erstaunlichste war, dass sie verstehen konnte, was er zu ihr sagte.
„Du und ich – wir sind eines! Obwohl wir in verschiedenen Gestalten leben. Wenn ich am Himmel fliege, sehe ich die Welt und alle verborgenen Dinge. Ich sehe nicht nur, was die Menschen tun, ich kenne auch ihre Absichten und geheimen Gedanken. Ich kann bis zu Göttern hoch am Himmel oben fliegen und ihnen berichten. Sie tun mir ihre Absichten kund und sie geben mir Aufträge, die ich den Menschen zu vermitteln habe. Ich komme Dich wieder besuchen - und Du kannst mich jederzeit rufen“, krächzte der weiße Schwan, nahm Anlauf und hob sich hoch in die Lüfte.
Erschrocken und verwirrt blieb die junge Frau am Ufer zurück. ʼSoll ich eine Mittlerin werden?ʼ fragte sie sich.
Alle wussten, dass Krankheiten nicht von ungefähr kamen, dass sie immer von den Göttern gesandt waren. Vielleicht zur Strafe für ein Vergehen, für ein vergessenes Opfer oder vielleicht auch aufgrund eines bösen Zaubers. Da nichts auf der Welt ohne Grund geschah, mussten die Götter befragt werden. Ohne deren Anweisung bliebe jede Heilung nur vorgetäuscht, die Krankheit würde sonst über kurz oder lang wieder in den Körper zurückkehren.
Der Schwan besuchte sie immer wieder und forderte sie auf, von dem alten Schamanen ihres Dorfs die geheimen Dinge des Lebens zu lernen. Anfänglich eher widerwillig tat der alte Mann dies, freute sich aber bald, da das wissbegierige Mädchen schnell lernte. Sie lernte den Gebrauch von Weidenrinde, um Schmerzen zu lindern, von Beinwell und Kamille bei Verletzungen und Entzündungen, von Odermenning bei Durchfall und vieles andere mehr. Auch lehrte ihr der alte Schamane die Wirkung und die richtige Dosierung von verschiedenen Pilzen und von Schlafmohn, um in eine andere Welt zu treten und zu ihrem Totem, dem Schwan zu werden.
Im Lauf der Zeit wurde die Schwänin zu einer geachteten Schamanin. Sie heilte mit Erfolg Knochenbrüche, in dem sie die gebrochene Extremität mit Holzschienen ruhig stellte, sie behandelte die Entzündungen der Atemwege mit Inhalationen von Efeudämpfen und die Atemnot mit Extrakten von Weißdorn. Auch die Erkrankungen der Frauen und der alten Männer wusste sie mit großem Einfühlungsvermögen und den passenden Kräutern, Wickeln und Dämpfen zu kurieren. Die Leute im Dorf und auch in den anderen Siedlungen nannten sie bald nur noch voller Respekt die Schwänin.
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