Die Schule. Leon Grüne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Grüne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754170724
Скачать книгу
vollendete David, der die Geschichte nun endgültig verstanden hatte.

      „Ich weiß. Die Entstehung der Schule ist voll von kitschigen Klischees und klingt so, als würde man sie in einer typisch romantischen Tragödie finden. Doch sie ist wahr und gilt bis heute. Jeder ist gleich und wird bei uns aufgenommen und akzeptiert. Es ist das Vermächtnis, welches Lauriea uns hinterlassen hat und wir bis heute fortführen, weil es wichtig ist, dass es Orte gibt, an denen niemand nach weiß oder schwarz, groß oder klein, dick oder dünn unterschieden wird. An Orten wie diesen ist jeder Mensch einfach Mensch“, beendete er seine Geschichte.

      „Und der Wald? Sie haben gesagt, er war nicht immer hier. Und was ist mit dem See und dem Fluss passiert?“

      „Kurze Zeit, nachdem Lauriea die Schule offiziell für eröffnet erklärt hatte, wurde weiter im Norden ein Staudamm errichtet. Der See und der Rest des Flusses trockneten aus. Lange Zeit später wollten Naturschützer den Bestand an Mammutbäumen sichern, da diese als bedrohte Art gelten. Ohne wirkliche Rücksicht auf die Schule oder das Leben der Menschen in der Umgebung zu nehmen, sorgten diese selbsterklärten Beschützer von Mutter Natur dafür, dass der Bestand nicht stabilisiert wurde, sondern aus dem Ruder geriet. Die großen Sägewerke begannen, die Aufforstung zu manipulieren und zahlten heimlich Bestechungsgelder an diejenigen, die mit dem Pflanzen der Bäume beauftragt waren. Sie hofften durch die deutlich überschrittenen Vorgaben an gepflanzten Bäumen, Aufträge zum Entfernen und Fällen der ungeplanten Bäume zu erlangen. Anstatt die Schule nur geringfügig im Wald verschwinden zu lassen, wurde sie über die Jahre hinweg immer mehr von geschmierten Naturschutzorganisationen regelrecht von der Außenwelt abgeschnitten. Jedoch hat die Holzindustrie noch nicht einen Cent damit verdienen können. Weitere Jahrzehnte gingen ins Land, und der Wald begann sich von selbst aufs Neue auszuweiten. Man erzählt sich Legenden über den Geist Canowicaktes, der nachts den Wald wachsen lässt, um das Land, auf dem er Rache für die Entehrung seiner Tochter genommen hat, für immer im Verborgenen zu halten. Und eines fernen Tages, wenn es vollständig in Vergessenheit geraten wäre, könne sein Geist zwischen den Stämmen der Bäume, die seine Trauer verstecken, Frieden finden und zur Ruhe kommen“, erklärte er ihm. David erwiderte nichts. Der Glaube an Geister und Übernatürliches war ihm schon immer fern gewesen. Für ihn bedeutete der Glaube an so etwas nur, dass jemand versuchte, eine gute Geschichte erzählen zu können. Sie waren nicht mehr, als ein Mittel zum Zweck. War eine Geschichte schlichtweg uninteressant oder öde, brauchte man sie nur mit Legenden und Mythen über Götter, Geister und anderen magischen Gestalten füllen, und schon war es vorbei mit langweilenden Fakten. Wie viele andere Sachen, waren sie nichts weiter, als ein Gestaltungs- und Unterhaltungsmittel in Erzählungen. So genannte Geisterjäger, die die Existenz von solchen paranormalen Aktivitäten beweisen wollten, glaubten daran, weil es ihnen Aufmerksamkeit und Geld einbrachte. Verängstigte und introvertierte Menschen waren ein gefundenes Fressen für sie. Unerklärliche Geräusche? Gegenstände, die sich von selbst bewegten? Ganz klar war das ein Geist, der sich bei ihnen eingenistet hat und nur gegen eine horrende Summe von den „Profis“ beseitigt oder ruhig gestellt werden könnte. Viele waren lediglich Opfer von Halluzinationen oder Einbildung gewesen, die sich durch den Placebo-Effekt, den die Geistervertreiber nutzten, beenden ließen. Andere nutzten die Einsamkeit der Menschen aus, die weder an Geister glaubten noch irgendetwas Seltsames erlebt hatten. Ihre schlichten Wünsche nach Beachtung und Kommunikation trieben sie dazu, Dinge zu erfinden, bloß, um nicht alleine sein zu müssen.

      Mr. Brenner erhob sich und klopfte sich den Staub von der Hose. Auch David stand auf und setzte seinen Rucksack wieder auf seine Schultern.

      „Ich denke, wir sollten uns langsam auf den Weg machen, wenn wir es noch rechtzeitig zum Essen schaffen wollen“, sagte Mr. Brenner.

      „Keine schlechte Idee“, stimmte David ihm zu, „Wie weit ist es denn ungefähr?“

      „Wenn wir dort hinten den schnellen Weg ins Tal nehmen, kommen wir an dem Punkt raus, wo einst das Lager der Franzosen stand. Von dort aus ist es noch etwa einen halben Kilometer bis zur Schule. Alles in allem ist es ein wenig mehr als einen Kilometer, den wir noch vor uns haben.“

      David nickte und folgte ihm den Anstieg, den sie vorhin erst hinaufgegangen waren, wieder hinunter.

      „Sir?“

      „Ja, David?“

      „Eine Frage hätte ich noch.“

      „Bitte, nur zu. Du kannst mich alles fragen, was du willst.“

      Die beiden erreichten den normalen Weg wieder und folgten ihm nun in die entgegengesetzte Richtung.

      „Glauben Sie daran? An den Geist des trauernden Häuptlings?“, fragte er mit einem gewissen Sarkasmus in der Stimme.

      „Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber wenn ich mich festlegen müsste, würde ich sagen, es gibt ihn“, antwortete Mr. Brenner.

      „Meinen Sie das ernst?“, fragte David verwirrt.

      „Selbstverständlich. Ich bin kein großer Freund von Mythen und Legenden, musst du wissen.“

      „Inwiefern macht dann Ihre Aussage Sinn, dass Sie daran glauben?“

      „Abgesehen davon, dass ich eigentlich nie an solche Geschichten glaube, kann ich mir einfach keine andere Erklärung für das Wachsen des Waldes herleiten.“

      „Ist es nicht normal, dass sich die Natur ausbreitet, wenn wir Menschen uns nicht einmischen?“

      „Das zwar schon. Aber ein Wald, der in 20 Jahren mehrere Kilometer Fläche dazugewinnt? Wie kann da keine übernatürliche Kraft am Werk sein?“

      „Ich verstehe nicht ganz. Was ist so besonders an den vielen Bäumen, die dazugekommen sind?“

      „Die Antwort darauf ist so kurios, wie sie nur sein könnte. Sie waren allesamt ausgewachsen und so groß wie die bereits über achthundert Jahre alten Bäume. Sie sind nicht einfach gewachsen. Sie sind einfach aus dem Nichts erschienen.“

      6

      Sie hatte es gewusst. Er wusste nicht wie, aber sie hatte es von Anfang an gewusst, dass es so kommen würde. Er konnte es in ihrer Stimme hören, als sie ans Telefon gegangen war und fragte, wie es ihm gehen würde. Zoe, dieses kleine wundervolle, schüchterne Mädchen hatte gewusst, dass er gehen würde. Dessen war er sich sicher. Nicht erst als er angerufen hatte. Schon am Vortag, als sie beim ihm zuhause saßen und Pfannkuchen gegessen hatten. Je mehr er darüber nachdachte, desto offensichtlicher schien es ihm. Was hatte sie noch gleich gesagt? Dass sie nicht wolle, dass er gehen würde und er bei ihr bleiben solle? Aber was konnte das schon meinen. Sie war ein kleines Mädchen, das sich einfach, ohne einen triftigen Grund, um ihren besten Freund sorgte. Kleinere Kinder beginnen nun mal schnell, in Panik zu geraten oder Angst zu bekommen, wenn sie aus einer Phase heraus handelten. Das rationale Denken war noch nicht sonderlich ausgeprägt oder ausgereift. Emotionen kontrollieren und beherrschen vermehrt das Denken und haben einen größeren Einfluss auf ihre Psyche als sachliche und reelle Fakten. Ein wenig beunruhigte es ihn jedoch schon, dass sie augenscheinlich bereits gewusst hatte, dass er fortgehen würde. Doch das war nur eine der vielen Sachen, die mehr Fragen aufwarfen, als Antworten lieferten.

      Des Weiteren ließ ihm Traes angebliche „Vision“ keine Ruhe. Er hatte von einer Schule inmitten eines Waldes gesprochen und von einem blutbeflecktem Mann neben ihm. Zwar hatte er mit der Schule im Wald Recht behalten, doch Mr. Brenner hatte kein Blut an seinen Händen oder an irgendeinem anderen Körperteil. Doch was hatte das zu bedeuten? Wahrscheinlich gar nichts. Es war reiner Zufall. Mehr nicht. Was sollte es auch anderes sein? Etwa eine übernatürliche Kraft, die in Trae durch einen seiner Joints eingefahren war und ihm die Zukunft zeigte? Selbstverständlich nicht. Weder gab es übernatürliche Kräfte noch etwas wie Visionen, die Realität werden würden. So etwas existierte schlichtweg nicht. Das wusste er genauso gut wie jeder normal denkende Mensch. Ebenso gut wusste er, dass es schwachsinnig war, seine Gedanken an solche Fragen zu verschwenden. Schließlich ging es bei den Personen um ein kleines emotionsgesteuertes Mädchen und um einen – so hart es nun mal klang – drogensüchtigen und halluzinierenden Teenager