In der Kutsche las er wiederholt den Brief seines Bruders und fragte sich, was so dringend gewesen sein konnte, dass Levian einen derart flehenden Ton anschlug. Nicht einmal ein zehntausend Mann starkes Heer, das die Burg belagerte, könnte ihn unter normalen Umständen dazu bewegen, sich in diesem Maße zu erniedrigen. Valerian hoffte, dass er nicht zu spät kam.
Seine Reise ging schleppend voran. Die Wege über den Pass waren so früh im Jahr nur schwer befahrbar. Mehrere Tage musste er in zweifelhaften Unterkünften ausharren, da Neuschnee die Weiterfahrt behinderte. Erst zum Ende des Lenzmondes erreichte er ardelanischen Boden, hatte aber zu dem Zeitpunkt noch mindesten drei Wochen Fahrt vor sich.
Wie immer, wenn die Berge hinter ihm lagen, genoss er die Reise durch dieses hügelige Land und mit jedem Tag, den er weiterfuhr, konnte er dem Frühling bei seiner Arbeit zusehen.
Als er in der zweiten Hälfte des Monats Launig Markt Krontal erreichte, beschloss er, ein bis zwei Tage zu rasten, ehe das letzte Stück seiner Reise bis zur Falkenburg antrat. Er wusste, dass Levian ihm nicht viel Zeit zum Ausruhen gewähren würde und dass man in Markt Krontal so manches einfacher erfuhr als auf der Falkenburg.
Nach Wochen in der Kutsche war er froh, sich endlich die Beine vertreten zu können. Den Brief seines Bruders trug er in der Brustasche seines Wamses.
Obwohl er eine Pause bitter nötig hatte – und mehr als er mussten seine Männer und die Pferde ausruhen – spürte er doch das schlechte Gewissen, das an ihm nagte.
Ohne auf etwas Bestimmtes zu achten, außer Klatsch und Tratsch, schlenderte er über den Markt. Es war der erste sonnige Tag nach einer ganzen Woche Regenwetter und das trieb die Menschen auf die Straße. Stimmengewirr, das nur durch die lauten Rufe der Händler übertönt wurde, erfüllte die Luft. Es wurde gefeilscht und gejammert und manches, was wie ein erbitterter Streit aussah, entpuppte sich am Ende als lohnendes Geschäft für Käufer und Verkäufer. Zunehmend entspannte sich Valerian und die Last der letzten Monate bröckelte von ihm ab.
»Edler Herr wünscht Ihr, das schöne Stück zu kaufen. Gewiss werdet Ihr nirgendwo anders einen so hervorragend gearbeiteten, außerdem noch so schön verzierten und preisgünstigen Gürtel finden.«
Valerian starrte auf den breiten Ledergürtel in seiner Hand und nahm erst jetzt bewusst wahr, dass er ihm gefiel. Er war schlicht und die schwarze Stickerei würde gut zu Levians düsteren Kleidungsstücken passen. Er lächelte. Wahrscheinlich war es unpassend Kleidung für einen König, auf einem Markt zu kaufen, aber der musste es ja nicht zwingend erfahren.
»Was soll er denn kosten?«, fragte er.
Der Händler musterte Valerian kurz und nannte einen Preis, der den Wert des Gürtels um das Vier- bis Fünffache überstieg.
Der Herzog war zwar durchaus bereit, einen angemessenen Preis zu zahlen, aber auf keinen Fall wollte er sich über den Tisch ziehen lassen. Mit entrüsteter Miene legte er den Gürtel zurück und wandte sich zum Gehen. Er schritt langsam, damit der Händler Zeit hatte, den Preis zu senken. Als er ihn durch sein Desinteresse auf die Hälfte des Preises heruntergehandelt hatte, drehte sich Valerian um und nannte seinen Preis. Nun konnte der Händler endlich zeigen, wie viel Schauspieltalent in ihm steckte. Er jammerte, er litt. Sieben Kinder, die allesamt Hunger litten, führte er ins Feld, bis sie sich schließlich auf einen Preis einigten, der Valerian akzeptabel erschien und für den Händler das Geschäft des Tages war.
»Ich habe den Herren noch nie auf diesem Markt gesehen«, plapperte der Mann, während er den Gürtel aufrollte. »Zweifellos könnte ich mich erinnern. Eurer Aussprache nach zu urteilen, kommt Ihr nicht aus Ardelan?«
Endlich eine Gelegenheit, zu plaudern, dachte Valerian. »Ich komme aus Mendeor«, bestätigte er. »Waldoria ist mein Ziel. Wie ich gehört habe, soll dort einiges los sein.«
»So kann man das auch ausdrücken«, brummte der Mann.
»Dann stimmen die Gerüchte?«, fragte Valerian ins Blaue und hoffte, dass er den anderen damit zum Reden bewegen konnte.
»Wenn es nur Gerüchte wären.« Der Mann schlug sich mit der Faust vor die Brust, wie zur Abwehr böser Geister. »Um die Stadt ist es schlecht bestellt. Die Menschen dort leben in Angst. Hunderte von Soldaten haben vor den Toren der Stadt, im Alten Wald, bereits den Tod gefunden, und wenn Ihr mich fragt, werden weitere sterben, wenn sie nicht endlich Ruhe geben.« Er beugte sich vor und warf einen prüfenden Blick über die Schulter, als ob er erwartete, dass jemand direkt hinter ihm stand. »Nicht einmal der Zauberer kann verhindern, dass die Elben überall umherlaufen.«
»In Waldoria gehen Elben um?«, fragte Valerian ungläubig.
»Doch nicht dort! Aber die Alten sind in vielen anderen Städten gesehen worden. Bisher immer friedlich und atemberaubend schön. Sie sprechen von einem König aus dem alten Geschlecht …« Er stockte, als ob ihm jetzt erst bewusstwurde, dass er mit einem Fremden über Dinge sprach, die ihn ohne Weiteres den Kopf kosten konnten. Mit einem verlegenen Hüsteln zog er sich weit hinter seinen Stand zurück. »Gerüchte, Klatsch und Tratsch. Ihr kennt die einfachen Menschen.«
Valerian nickte dem Mann zum Abschied zu und entfernte sich mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er konnte kaum glauben, dass die scheuen Elben, die er vergangenen Sommer im Wald gesehen hatte, in den Städten unterwegs sein sollten. Und was war das für ein Gerücht über einen König aus dem alten Geschlecht? Doch nur, weil niemand sonst in der Thronfolge stand, war Levian damals König geworden. Sein Bruder war selten so ungehalten gewesen, wie in der Zeit, als das von der Kirche geprüft wurde.
Valerian wusste aber, dass in nahezu jedem Gerücht ein Fünkchen Wahrheit steckte. Nur war die Wahrheit manchmal nicht sofort zu entdecken. Er musste versuchen, Genaueres zu erfahren. Möglicherweise war es nur der von Levian angeschürte Elbenwahn, der die Fantasie der Menschen beflügelte. Doch wenn es stimmte, was der Händler erzählte, dann hatte Levian ein nicht unerhebliches Problem.
Valerian schlenderte weiter. Er kaufte an weiteren Ständen Dinge, die er nicht brauchte, und verwickelte die Menschen ins Gespräch. Mit Fragen wie, »Habt Ihr das von den Elben gehört?«, brachte er viele Händler zum Reden. Wenn er jedoch auf das Heer bei Waldoria zu sprechen kam, schürte er Unmut. Fast jeder hatte einen Sohn oder Bruder, der dienen musste. Die Unzufriedenheit war groß, der Feind nicht greifbar, die Heerführung zweifelhaft und die Verluste hoch. Die Leute waren unruhig. Das Land litt unter den Vorbereitungen auf einen Krieg und die Angst vor dem Zorn der Elben war groß.
Die Gerüchte waren widersprüchlich. Jene, die behaupteten Elben gesehen zu haben, sprachen von friedlichen Wesen. Andere, die Söhne im alten Wald verloren hatten, von einem mächtigen Feind. Worin sich alle einig waren, war die Meinung, dass man nicht gegen sie kämpfen sollte.
Ganz frisch schienen zudem die Geschichten von der Entrückung des Waldes. Es hieß, dass sich über dem Wald eine Art Nebel gebildet hatte, sagten die einen, ein Luftflimmern behaupteten andere. Angeblich konnte man ihn nicht mehr betreten, und selbst wenn dies gelang, lief man anschließend nur im Kreis.
Die meisten dieser Berichte endeten mit den Worten: »Der alte Wald war schon immer eigen. Jedes Kind weiß das.«
Manche unterstellten dem Zauberer, diese Veränderung heraufbeschworen zu haben. Andere behaupteten, dass er bloß ein nichtsnutziger Angeber sei, doch die meisten hatten einfach nur Angst, weil man nicht auf die Warnungen der Alten gehört hatte.
Ein Vorwurf, den sich kaum einer traute, offen auszusprechen war: »Der König hat die bösen Geister im Wald geweckt und die Elben erzürnt.«
Immer wieder hörte Valerian dieselben Sätze: »Wer im Dachsbau stochert, braucht sich nicht wundern, wenn er gebissen wird.«
»Schlafende Hunde soll man nicht wecken.«
»Man betritt nicht die Höhle eines schlafenden Bären.«
Und schlimmer: »Böses zieht Böses an.«
»Wie man in den Wald ruft, so schallt es zurück.«
Und dann erfuhr Valerian unvermittelt, dass sich der König