Die Nähe der Nornen. Kerstin Hornung. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kerstin Hornung
Издательство: Bookwire
Серия: Der geheime Schlüssel
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754182079
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etwas von Phine erfahren?« Die Hoffnung war schmerzhaft, aber der traurige Schatten auf Ala’nas Gesicht, der sie zunichtemachte, ließ ihn gepeinigt aufstöhnen.

      »Nicht von Josephine. Trotzdem glaube ich, dass es dir Freude bereiten wird.«

      Feodor schwieg. Sein Herz klopfte bis zum Hals, aber er wagte nicht, Philips Namen auszusprechen, aus Angst, sie könnte Nein sagen.

      »Setz dich zu mir ans Ufer. Erschreck nicht. Der See, Latar’ria, wird sich verändern. Sie ist so klar und durchscheinend, aber auch empfindlich wie ein heißblütiges Ross. Nur in ihren tiefsten Tiefen brodelt noch die Dunkelheit.«

      Ala’na ließ ihre Augen über den Teich gleiten, als könnte sie ihn sehen. Geschmeidig ließ sie sich sinken und Feodor setzte sich schwerfällig wie ein Ochse neben sie. Mehr denn je spürte er den Unterschied zwischen sich selbst und ihr. Sie breitete ihre Arme aus, der weite Ärmel fiel zurück und entblößte ihre zarten Handgelenke. Feodor sah beschämt weg, direkt auf seine eigenen plumpen Finger.

      Ala’na murmelte Worte in der fremden Sprache der Elben, dann entspannte sie sich und griff nach seiner Hand. Feodors Herz setzte einen Schlag lang aus, ehe es lospolterte wie Geschirr, das vom obersten Brett herunterfällt und auf dem Weg zur Erde alles mit sich reißt.

      Die erste Veränderung des Sees bemerkte er erst, als sie bereits geschehen war. Einen Moment lang war er so überrascht, dass er nach Luft schnappte. Ala’na drückte beruhigend seine Hand. Die ihre lag leicht wie eine Feder in seiner, und ihm war, als würde er einem Geist durch die luftigen Gefilde des Himmels folgen. Von dem Wald, der sich im See gespiegelt hatte, war nichts mehr zu sehen, stattdessen toste ein Wildbach in einem steinigen Bett schäumend einen steilen Abhang hinunter. Die Gewalt der Natur zog Feodor vollständig in ihren Bann. Als das Gesicht einer Elbin in dem See auftauchte, war er enttäuscht.

      »Isi’la, ich grüße dich«, sagte Ala’na.

      Trotz der relativ langen Zeit, die Feodor schon in Pal’dor lebte, nahm er immer noch anerkennend wahr, dass sich die Elben in seiner Gegenwart immer in der Sprache der Menschen miteinander unterhielten, um ihn nicht auszuschließen. Trotzdem war er ein Fremder, weil er sich selbst wie einer fühlte.

      »Ala’na, es freut mich, dich zu sehen.«

      »Ich habe jemanden mitgebracht. Feodor wartet ungeduldig auf das, was du mir gestern bereits sagtest.«

      »Feodor«, die Elbin am andern Ende der Welt neigte leicht ihren Kopf und Feodor tat es ihr gleich, schwieg aber, denn in der Aufregung war ihm ihr Name entfallen.

      Sie sah zur Seite und streckte ihren rechten Arm aus. Gleich darauf erschien ein zweites Gesicht im Spiegel des Sees. Feodor klappte der Kiefer nach unten. Er sah es und konnte es nicht glauben. Seine Lippen formten stumme Worte, die Welt um ihn herum drehte sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Seine Augen versanken im See. Er streckte den Arm aus, um das Gesicht zu berühren, aber dabei ließ er Ala’nas Hand los und das Bild verschwand, als wäre es nie da gewesen.

      3. Der goldene Schlüssel

      Ala’na griff nach seiner Hand. Es kribbelte in seinen Fingern, in seinem Arm, und dann konnte er wiedersehen, doch alles, was er sah, war das traurige Gesicht der Elbin, die ihn mitfühlend musterte. Die Enttäuschung war wie eine Schlucht, und Feodor stürzte kopfüber hinein.

      »Es tut mir leid, Feodor. Ich wollte Philip überraschen. Ich dachte, es würde ihn freuen. Er ist so traurig, irgendwie verwirrt. Ich spüre seine Unsicherheit, seine Suche nach sich selbst. Ich dachte, wenn er dich sieht, würde er einen Teil dessen finden, was er sucht. Es tut mir leid.«

      »Dann weiß er es?«, fragte Feodor, aber als er es aussprach, wusste er bereits die Antwort. »Er weiß es!«, fügte er hinzu.

      »Was auch immer es ist, ich weiß es nicht. Frendan’no schweigt und auch Leron’das sagt kein Wort«, murmelte Isi’la.

      »Ist Leron’das bei euch?«, fragte Ala’na.

      »Er kam gestern im Mantel der Nacht. Die Dinge entwickeln sich nicht so, wie er es wünscht. Er wollte mit dem Rat sprechen.«

      »Wenn du erlaubst, Isi’la, würde ich gerne mit ihm sprechen.« Ala’na hielt immer noch Feodors Hand und band ihn damit ans Geschehen, doch Feodor wünschte sich, nur noch einmal Philips Gesicht sehen zu können. Ein Gesicht, das ihm so vertraut war, aber das sich in den vergangenen Monaten stark verändert hatte. Als er ging, war er ein Knabe, doch heute trug er das Gesicht eines Mannes. In seiner Seele aber war er verwundet. Es schmerzte Feodor zutiefst und es ärgerte ihn, denn er selbst hatte es verdorben. Er hatte sich der einzigen Möglichkeit beraubt, mit Philip zu sprechen. Erst jetzt wurde ihm klar, welche wunderbare Möglichkeit Ala’na ihm gegeben hatte, aber er hatte sie nicht genutzt.

      »Ich grüße dich, Feodor«, sagte Leron’das und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

      »Leron’das«, krächzte Feodor. Auch der Elbe hatte sich verändert. Seine Haare waren länger und mit feinen geflochtenen Zöpfen geziert, und in seinen Augen hatte er ein fiebriges Leuchten. Etwas wie Glück und Kummer in einem.

      »Es ist lange her, seit wir uns zuletzt sahen. Ich wollte, ich hätte dir berichten können, dass ich deinen Sohn fand.«

      »Doch dann hast du herausgefunden, dass ich nicht sein Vater bin. Möglicherweise hätten wir uns einiges erspart, wenn wir …«

      »Es lohnt nicht zu hadern, Feodor«, tadelte Ala’na milde.

      Zorn und Tränen stiegen in Feodors Kehle auf. »Ich bin ein Mensch, ich hadere! Ich hab sie verloren und auch ihn.« Feodor ließ Ala’nas Hand los und lief in den Wald. Tränen, die keiner sehen sollte, kullerten über seine Wangen.

      ***

      Philip lief, so schnell er konnte. Er hasste jeden Stein, der unter seinen Füßen wegrutschte und jede Felsnase, die er umkrümmen musste. All der Kummer, den er mühsam unter einer Decke des Schweigens hielt, kochte in ihm hoch. Er hatte seinen Vater gesehen und dann war er plötzlich verschwunden gewesen. Herausgerissen aus seinem Leben. Verschwunden. Philip wollte niemanden sehen. Er wollte Stille und Einsamkeit, damit er sich so fühlen konnte, wie sich seine Seele anfühlte, ohne dass ihn jemand zu trösten oder aufzumuntern versuchte. Er stolperte und schürfte sich beide Hände an den scharfen Steinen auf, doch der Schmerz war gut. Er war real und lenkte ihn ein wenig von seinem eingeschnürten Herzen ab.

      Er hatte gehofft, hier oben Abstand zu bekommen. Abstand, der es ihm ermöglichte, wieder klar zu denken. Doch hier gab es nur zwei Richtungen, nach oben oder nach unten. Er war eingesperrt in dieser Welt. Zwar stockte ihm jedes Mal der Atem, wenn er auf das Land zu seinen Füßen sah, jedoch nur, weil er wusste, dass es dort unten ein Leben gab, welches ihn ausgestoßen hatte. Frendan’no tat sein Bestes, um ihm seine Trauer, Wut und Verzweiflung abzunehmen, aber Frendan’no konnte nicht das ersetzen, was er verloren hatte.

      Schließlich blieb Philip atemlos stehen. Die Höhe machte ihm immer noch zu schaffen. Er ermüdete schnell. Zornig setzte er sich auf einen Stein und musterte seine geschundenen Hände.

      Er wusste nicht, wie lange er so dagesessen hatte, als sich Frendan’no neben ihm niederließ. Er sagte nichts, saß einfach nur da, aber seine Anwesenheit besänftigte Philips Trauer und zügelte seine Wut.

      »Gibt es keinen anderen Ort, an dem ich leben kann?«, fragte er schließlich.

      »Du kannst an jedem Ort leben«, antwortete Frendan’no.

      »Ich kann überhaupt nicht leben.«

      Sie schwiegen beide.

      »Leron’das würde gerne mit dir sprechen«, sagte Frendan’no schließlich.

      »Leron’das würde mich gerne dazu zwingen, die Welt zu retten. Leron’das glaubt, dass ich nur dort unten auftauchen muss und schon sind alle glücklich und zufrieden«, knurrte Philip.

      »Du tust ihm unrecht.«

      Philip