Die Nähe der Nornen. Kerstin Hornung. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kerstin Hornung
Издательство: Bookwire
Серия: Der geheime Schlüssel
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754182079
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weiß, dass du die Wahrheit bereits kennst. Aber du hättest sie nicht so erfahren sollen. Wir hätten es dir sagen müssen – bevor du gingst.« Feodor quälte sich sichtlich.

      »Niemand konnte wissen, dass ich so lange wegbleiben würde. Niemand konnte wissen, dass sich die Dinge so entwickeln würden.« Diese Entschuldigung hatte sich Philip in so vielen Nächten vorgehalten, doch jetzt, im Angesicht seines gramgebeugten Vaters, bekam sie erst das richtige Gewicht.

      »Es ist so, dass ich meistens gar nicht daran dachte, es dir zu sagen, weil es bedeutungslos war. Für mich warst du immer mein Sohn und für deine Mutter … ich meine Phine …« Als er ihren Namen aussprach, zitterte seine Stimme. »Sie war wie eine Bärin, wenn es darum ging, dich zu schützen.«

      Wie hatte er nur jemals zweifeln können, fragte sich Philip. Wie hatte er nur jemals glauben können, dass sich irgendetwas geändert hatte?

      »Ich muss zugeben, dass ich erschüttert war«, gestand er. »Ich dachte, ich ... ich fühlte mich verraten. Ausgestoßen ... und ich fürchtete, keine Familie mehr zu haben.«

      Eine Träne löste sich aus Feodors Augen und floss ihm langsam über die Wange, bis sie in dem ordentlich gestutzten Bart versickerte. »Solange ich lebe, wirst du mein Sohn sein«, versicherte er.

      Philip lächelte befreit. Der feste Knoten, der seine Brust eingeschnürt hatte, löste sich, und er konnte wieder frei atmen.

      »Wie geht es euch?«, fragte er. »Wieso bist du in Pal’dor, Vater?« Philip konnte deutlich sehn, dass sein Vater sich nur mühsam aufrecht hielt, während er versuchte, tapfer zu lächeln.

      »Sag du mir erst, was du erlebt hast. Du bist so erwachsen geworden. Ein richtiger Mann. Der Bart steht dir gut.«

      Philip fasste an sein Kinn. Offensichtlich hatte er es in den letzten Tagen versäumt, den Bart abzuschaben.

      Er erzählte mit wenigen Worten, wie er aus dem Wald geflohen war – seine Verletzung, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte, ließ er aus. Er erzählte, wie er Leron’das getroffen hatte und Walter, und dass er dann mit Walter ins Wildmoortal gegangen war. Er erzählte von Hilmar und Agnus – Arina ließ er aus und auch seine Erhebung zum Baron von Wasserfurt – von der Reise nach Süden und schließlich von seiner Ankunft in Corona.

      »Aber jetzt musst du mir sagen, wie du Pal’dor gefunden hast. Ist Lume’tai jetzt endlich bei ihrer Familie?«

      »Lume’tai gehört genauso zu uns wie du, Philip. Und ich habe Pal’dor nicht gefunden, viel mehr hat Pal’dor uns gefunden. Wir mussten fliehen, der Zauberer hat uns entdeckt.«

      »Ich habe Leron’das gleich gesagt, dass er Lume’tai nicht bei euch hätte lassen dürfen!«

      »Nein. Hör zu«, unterbrach ihn Feodor. »Lume’tai gehört zu uns! Sie hat zusammen mit Phine Großes geleistet, aber der Zauberer hat sie beide entdeckt, und wir sind in den Wald geflohen. Die Elben haben uns geholfen, aber deine Mutter ist …ist …Phine ist verschwunden.«

      »Nein!«, flüsterte Philip entgeistert. Das durfte nicht wahr sein!

      Aber sein Vater nickte und eine weitere Träne floss über seine Wange. Als er seine Stimme wieder unter Gewalt hatte, sagte er: »Viele hier suchen nach ihr. Nur ich kann nicht … wegen der Kinder.«

      Einen flüchtigen Augenblick lang war Philip versucht – so wie früher – sich anzubieten, auf die Jungs aufzupassen, doch dann wurde ihm klar, dass diese Zeit endgültig vorbei war.

      »Ich werde sie suchen«, hörte er sich sagen.

      »Philip, nein! Wahrscheinlich hat sie der Zauberer in seiner Gewalt. Er ist mächtig und in deinen Adern fließt elbisches Blut. Keiner hier spricht mit mir darüber, aber ich reime mir meinen Teil zusammen. Der Zauberer strebt nach Unsterblichkeit und damit nach schier grenzenloser Macht. Dafür braucht er Elben. Ich weiß nicht, wie viele, ich weiß nicht, wozu. Deine Mutter hat Kräfte, die mir selbst unbegreiflich sind, und ich weiß, dass viele hier fürchten, er könnte ihre Kräfte für seine Zwecke missbrauchen. Es sind ausschließlich Männer, die nach deiner Mutter suchen. Bei uns Menschen wäre das selbstverständlich, aber unter den Elben ist das scheinbar nicht so, doch in diesem Fall scheinen sich alle einig zu sein. Der Zauberer braucht für seinen teuflischen Plan eine Frau. Ich hoffe, es ist nicht Phine …« Seine Stimme brach.

      »Aber einer von uns muss sie doch suchen. Wir müssen sie finden, und ich habe bereits Arina gefunden und einem Zauberer entrissen.«

      »Wer ist Arina?«, fragte Feodor.

      Philip wurde rot bis an die Haarwurzeln. Würde er jetzt daheim in der Küche sitzen, hätte er möglicherweise nach Ausflüchten gesucht und sein süßes Geheimnis noch eine Weile für sich behalten, aber nun sah er seinen Vater an und sagte: »Sie ist die Tochter des Grafen von Weiden. Ich liebe sie.«

      Feodor lächelte flüchtig. »Hör zu, Philip. Es ist wichtig, dass Phine gefunden wird, aber ich will nicht, dass du dich auf die Suche nach ihr machst. Wenn du stark genug bist, um von dem Berg, auf dem du dich versteckst, herunterzusteigen, solltest du dir vorher überlegen, was du mit deinem Leben anfangen willst. Seit ich hier in Pal’dor bin, habe ich Elben gesehen, die sich rüsteten, um sich den Menschen im Westen bei ihrem Kampf anzuschließen. Ich habe mir geschworen, dass ich dich in dieser Hinsicht niemals beeinflussen werde. Gott ist mein Zeuge, das mir nichts fernerliegt …«

      »Dann sag es nicht.« Philip schloss die Augen. »Sag es nicht«, flüsterte er.

      Isi’la fasste Philip leicht an die Schulter. »Ala’na ist erschöpft, sie wird die Verbindung nicht mehr lange halten können.«

      Er nickte und verabschiedete sich von seinem Vater. Als er längst nur noch die schäumenden Wellen des springenden Quells vor Augen hatte, starrte er immer noch hinein, so als könnte er Antworten erhalten.

      Zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich so, als würde er wieder mit beiden Beinen den Boden berühren. Der lähmende Schmerz in seiner Brust war atemlosem Herzrasen gewichen. Die ganze Familie war von dem Zauberer vertrieben worden und Mutter hatte er in seiner Gewalt. Almira’da war in Eberus spurlos verschwunden. Vinzenz und Agnus machten sich zum Kampf bereit, und Arina ging mit Hilmar geradewegs einem weiteren Zauberer entgegen.

      Philip erinnerte sich, an die stille Würde, mit der sie ihre Verletzungen und ihre Angst eingesetzt hatte, um mit ihrem Vater Verbündete gegen den König und seine Zauberer zu finden.

      Und Philip saß auf einem Berg und versteckte sich vor der Welt. Ließ alle im Stich. Dabei war Theophil tot, weil ihm Philips Leben wichtiger war als sein eigenes.

      Er atmete tief ein. Jetzt musste er mit Leron’das und Frendan’no sprechen.

      Leron’das traf er zufällig auf einem der Pfade und Frendan’no saß immer noch am Hang und starrte in die Ferne. Philip schritt entschlossen aus und Leron’das folgte ihm stumm.

      »Ich muss mit euch beiden reden«, begann er, als er oben angekommen war.

      Frendan’no sah ihn einigermaßen erstaunt an, denn so viel Tatendrang hatte er noch nie in Philips Stimme gehört.

      »Ich habe soeben mit meinem Vater gesprochen, und vieles von dem, was er mir sagte, beunruhigt mich zutiefst.« Er machte eine kurze Pause und wunderte sich still über seine nüchternen Worte. Sein Herz war voller Angst um seine Mutter, voller Zweifel, Trauer und Verwirrung, aber seine Worte sagten darüber nichts.

      »Während ich hier oben saß und mich selbst bemitleidete, hat Dosdravan meine Familie vertrieben und meine Mutter verschleppt.« Jetzt zitterte seine Stimme doch.

      Frendan’no stöhnte auf, drückte die Fingerspitzen an die Schläfen und schloss gequält die Augen.

      »Elben aus Pal’dor suchen sie«, erläuterte Philip. »Aber er kann sie sonst wohin gebracht haben. Er könnte sie als Köder benutzen, er könnte … Ich wage nicht, daran zu denken, was er könnte und was er bereits getan hat. Ich kann nicht länger tatenlos bleiben. Aber da ich meinem Vater versprechen musste, mich nicht selbst