Den Tod für Tante Trudl!. Lukas Wolfgang Börner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lukas Wolfgang Börner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741819766
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zügelte mich aber noch. Wie du bereits weißt, denn ich habe die jüngere Vergangenheit schon vor dieser älteren aufgeschrieben, habe ich das auch später getan. Aber in diesem Moment größter Abscheu vor dieser Person zügelte ich mein Bedürfnis.

      Ich muss gestehen, dass es nicht nur die Nähe zu ihrem Gesicht war, was mich veranlasste, aus dem Versteck zu springen und mir diese Spielgefährtin anzuschauen. Die Aussicht, im baldigen Gymnasialjahr eine Freundin und Banknachbarin zu haben – denn im Grunde wusste ich ja, dass ich nicht zurück nach Tupfing konnte –, war mir doch angenehmer, als ich vorerst zugeben wollte. Ja, das dachte ich.

      Deshalb trottete ich wortkarg vor meiner Tante her, durch das duftende und blühende Haus hinunter Richtung Hausgang. In der Tür davor war ein verschwommener Spiegel angebracht, ich sah mich kurz mit roten Augen darin, wie ich widerwillig hin und her trippelte.

      Doch nein! Ich musste mich getäuscht haben! Die Tante lief doch neben mir, aber ich konnte sie im Spiegel nicht sehen! Schnell drehte ich mich nach ihr um. Ich hatte sie rechts hinter mir erwartet und tatsächlich stand sie dort auch! Und wieder drehte ich mich nach dem Spiegel, um ihre Erscheinung darin zu erblicken. Aber es war genau wie beim ersten Mal! Keine Tante Trudl war dort zu erkennen!

      Nun wurde mir alles klar! Tante Trudl war ein Vampir! Ach, ich hatte es ja schon lange vermutet, weil sie mir ja alle Energie und Freude aus dem Körper gesaugt hatte.

      Das war der erste Moment,

      an dem ich darüber nachdachte,

      Tante Trudl umzubringen.

      „Du brauchst nicht schüchtern sein“, wisperte mir ihre Stimme ins Ohr. Sie hatte mein Stehenbleiben falsch gedeutet. Ich zeigte auf den Spiegel und verfluchte mich im selben Moment dafür. Trudl durfte nicht wissen, dass ich ihr Geheimnis kannte.

      „Ja,“ sagte sie und ich muss zugeben, dass mich ihre folgenden Worte sehr verwirrten, „das ist sie.“

      Ich wandte mich zu ihr um und schaute ihr das erste Mal ins Gesicht. „Wer ist das?“, fragte ich. Hinter dem Terrassenfenster stand der Apfelbaum. Er war so grün, so grün vor dem schrecklichen Beton. Seine goldenen Früchte und die braunen Zapfen blinkten durch das Blätterwirrwarr. Ich erzähle das nur deshalb, weil ich mir in diesem Moment nichts mehr wünschte, als eben dort oben zu sitzen. Ich wollte in diesem grünen wunderbaren Häuschen sein, von den Äpfeln kosten und an den Zapfen schnuppern! Und ich wollte niemals mehr hinunterkommen. Ich wollte dort sitzen, bis mir die verzweifelte Vampirtante versprechen würde, dass ich nach Hause dürfte. Aber ich war ja viel zu gering, um dort hinaufzukommen.

      „Das Mädchen ist deine neue Spielgefährtin“, antwortete die Tante und runzelte die Stirn. „Wie lange willst du sie denn noch warten lassen?“

      „Aber, aber das ist doch ein Spiegel“, entgegnete ich. Mir war nun wirklich eigenartig zu Mute. Wenn ich nur auf diesen Baum gelangen könnte! Wäre er unter meinem Zimmerfenster gestanden, ich schwöre dir, du Leser, ich wäre in einer Nacht- und Nebelaktion dort hineingesprungen. Aber jetzt war kein Fortkommen. Plötzlich lachte die Tante und riss mich aus meinen Freiheitsgedanken.

      „Steffi, das ist doch kein Spiegel. Eine verschwommene Glasscheibe ist es, sonst nichts!“

      Und sie hatte recht. Denn sie öffnete die Tür und da stand das Mädchen noch im Hausgang. Und als sie hereintrat und die Tür wieder verschlossen wurde, war niemand mehr im Spiegel zu erkennen. Ich hätte mich schon selbst schrecklich schimpfen wollen für die Dummheit, wenn ich nicht zu sehr von dieser Mädchengestalt abgelenkt gewesen wäre.

      Sie sah mir gar nicht unähnlich, hatte wie ich schmutzigblondes halblanges Haar, eine schöne kleine Nase und einen ganz leichten Überbiss. Doch waren ihre Augen – soweit das möglich ist – noch geröteter als meine. Und war ich zu diesem Zeitpunkt schon schlanker als früher, so war sie hager. Auch ihr Teint war blasser als meiner. Das merkwürdigste an ihr waren aber ihre Wimpern, die zum Teil an ihrer Iris festzukleben schienen. Vielleicht waren sie der Grund, warum ihre Augen so tränenreich und gerötet waren, ich weiß es nicht. Bis heute nicht.

      Nur ein Teil ihrer Wimpern wuchsen mir entgegen, der andere Teil – es war sicher eine gute Hälfte davon – verlief exakt senkrecht über die offenen Augen. Mein erster Gedanke war: Das müssen ja enorme Schmerzen sein, die das Mädchen zu ertragen hat!

      Der Schock aber kam, als ich einen Schritt auf sie zutrat, vielleicht, um ihr die Hand zu schütteln oder um sie einzuschüchtern, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß aber, dass ich ihr tief in die roten Augen blickte und mich dann ähnlich erschreckte, wie es meine Mutter in ihren letzten Atemzügen getan hatte.

      Ich erblickte mein Spiegelbild in ihren Augen. Es war mein Gesicht, das mit doppelter Beklommenheit auf mich zurückstarrte. Doch die senkrecht verlaufenden Wimpern erschufen ein grässliches Gesamtbild. Es sah doch haargenau aus wie eine Gefängniszelle, in der mein blasses Gesicht gefangen war. Ihre Wimpern waren zu Gitterstäben für mein Spiegelbild geworden!

      Ich wich vor dem Mädchen zurück und glaubte – es mag Einbildung sein – eine kaum wahrnehmbare Häme über das zarte Gesicht wandern zu sehen.

      Tante Trudl schämte sich für mich: „Was ist denn mit dir los? Willst du der Qual nicht guten Tag sagen?“

      „Wie heißt sie?“, erwiderte ich unter erstickten Lauten.

      Tante Trudl stöhnte. Dann sagte sie: „Steffi, das ist die Qual! Qual, das ist meine Nichte Steffi!“

      *

      Die Qual verschwand nicht mehr. Sie blieb an mir pappen wie ein Kaugummi und war ebenso eklig und schleimig. Ich hatte bis dato gedacht, dass es das schlimmste wäre, von jemandem gehasst zu werden, den man seinerseits gern mag. Ich bin in der zweiten Klasse mal verliebt gewesen, nein, „verliebt“ war ich vielleicht noch nicht, aber ich hatte mich zumindestens „verschaut“. In einen Buben, der dazu noch unser Klassensprecher war. Aber der hat mich nicht leiden können, ich weiß gar nicht, warum, aber er hat meine Anwesenheit gemieden, wo er nur konnte. Und dabei war er gar kein schüchterner Typ.

      Ich meine, das wissen wir doch beide, wie Mädchen und Buben im Laufe der Schulzeit aufeinander reagieren. In der Grundschule verstehen sich die Geschlechter noch ganz gut. In der ersten Klasse ist fast noch kein Unterschied zwischen ihnen zu erkennen. Ab der fünften Klasse dann meiden sich die Geschlechter, es sei denn sie gehen wirklich miteinander. Wenn man beispielsweise zu einer Gemeinschaftsaufgabe mit einem Buben gezwungen wird, muss man „Iiih“ und „Äääh“ sagen, damit niemand denkt, man wäre in ihn verknallt. Das ist der normale Weg der Geschlechter. Hier an diesem Gymnasium ist das allerdings ein bisschen anders. Aber das werde ich ein anderes Mal erzählen, das gehört vorerst nicht hierher.

      Der Klassensprecher, in den ich mich verschaut hatte, war also ein ganz aufgeschlossener Typ und – wie gesagt – noch in dem Alter, wo Mädchen und Buben noch keinerlei Berührungsängste haben. Außerdem bin ich nicht hässlich. Das heißt, momentan vielleicht schon, weil ich zu blass und zu dünn bin, aber eigentlich bin ich nicht hässlich. Ich bin auch nicht nervtötend. Du weißt schon, so ein hüpfendes Etwas, das bei Schüchternheit besonders hektisch wird und letztendlich nur noch Schmarrn daherredet. Nein, das bin ich nicht. Ich habe mich in manchen Pausen halt in seiner Nähe aufgehalten und ihn ein paarmal gefragt, ob ich auch mit Fußball spielen dürfte. Und ich durfte. Es gab also gar keine Probleme zwischen uns.

      Ja, ja freilich, einmal habe ich in einem unbeobachteten Moment mein Tuschefass schlecht verschraubt in seinen Ranzen geworfen, weil er mich ja nie richtig beachtet hat und ich deswegen wütend war, aber ich hatte schon drauf geachtet, erst das Etikett mit meinem Namen zu entfernen. Er konnte also unmöglich wissen, dass es mein Tuschefass gewesen war, das seine Hefte und Schulbücher ruiniert hatte.

      Naja, um wieder zum Punkt zu kommen: Es ist schrecklich, von jemandem gehasst – oder zumindestens ignoriert – zu werden, den man mag. Aber das ist nicht das schlimmste. Das weiß ich jetzt. Das schlimmste ist, von jemandem geliebt zu werden, den man hasst.

      So