Schokolade und du. Wer verzehrt wen?
WAU! WAU WAU WAU!!!
Nun ist es soweit. Das ist der teuflische Moment.
Die Schokolade schmilzt auf deiner Zunge. So warm. So feucht. So süß.
Nun muss die Reue kommen. Aber die Sünde ist so süß, so süß.
Wo bleibt sie denn?
Ein weiteres Stück. Ein weiterer Blitz. Die Wände erzittern.
Noch eines und noch eines und noch und noch und noch.
Wo bleibt die Reue, das prügelnde Frauchen? Wo bleibt sie?
Wie der Hagel die Autos auf den Straßen zerbeult. Trümmerhaufen sind es. Nur mehr Trümmerhaufen. Aber du empfindest keine Reue.
Ja, du empfindest etwas. Aber was? Ist es Hochmut? Ist es Stolz?
Wann hast du zuletzt so intensiv gelebt wie jetzt.
Noch nie. Oh, süße Sünde, noch nie.
*
Steckbrief
Worauf das Ganze hier hinausläuft, lässt sich in gewisser Weise bereits vorausdeuten, wenn man das Verhältnis zwischen dem Apfelbaum und der Überschrift, die dich schon vor Beginn der Lektüre meiner grauenhaften Geschichte auf die bittere Konsequenz, die momentan freilich noch nicht eingetroffen ist, es führt aber gar kein Weg daran vorbei, daher wollen wir, ich und du – ich duze dich jetzt einfach mal, denn für mich stellst du als Leser ja bestenfalls ein Abstraktum dar und Abstraktums, oder wie die Mehrzahl davon auch immer heißen mag, möchte ich an und für sich nicht siezen, denn wenn man bedenkt, wie groß der Anteil an Kindern sein dürfte, die dieses Buch in die kleinen Hände kriegen, ich bin ja schließlich auch noch ein Kind, noch, ja, und ich glaube daher, dieser Anteil könnte besonders mächtig sein, „mächtig“ ist hier vielleicht nicht das passende Wort, aber „groß“ habe ich kurz davor schon benützt und meine imaginäre Deutschlehrerin soll nicht gezwungen sein, ein imaginäres W, das „Wiederholung“ heißt, in mein Buch zu zeichnen, und hast du’s gemerkt, dass das „W“ jetzt hinter einer zweiten Wortwiederholung ...
Moment! Es hat geklingelt!
Ach, es war nur wieder dieses wüste Nachbarsmädchen. Ich hasse sie.
Wo waren wir stehen geblieben?
... ähm ... ach ja!
Beim Apfelbaum. Er steht also im Garten und trägt goldene Äpfel – zu jeder Jahreszeit, wie mir Tante Trudl immer wieder versichert. Der Garten mag vielleicht das einzige Stück Erde sein, das hier im Lot ist. Das Haus, unter dem ich gerade sitze, denn ich behaupte, dass man sich im Keller eines Hauses nicht mehr im Haus, sondern unterhalb vom Haus befindet und das mag vielleicht auch der große Reiz eines Kellers sein ...
Als kleineres Kind habe ich mich vor dem Keller unseres Hauses gefürchtet. Aber wenn mich jemand gefragt hätte – mein lieber, lieber Papa vielleicht oder die Mama –, dann wäre ich nie auf die Idee gekommen zu sagen, dass ich mich vor unserem Haus fürchten würde. Verstehst du? Das muss ja nun heißen, dass der Keller keineswegs Teil des Hauses ist. Er ist vielmehr eine unangenehme Begleiterscheinung. Das schlechte Gewissen vielleicht oder nein: Das Unterbewusstsein ist er. Das Unterbewusstsein ist nämlich jenes Ding, das sich nur durch das Wort „unter“ vom Bewusstsein unterscheidet. Während die anderen Etagen eines Hauses in Geschosse einzuteilen wären, spricht man beim Keller von einem Untergeschoss.
Nun ist also das Haus, unter dem ich gerade sitze, weil, ich befinde mich im Keller, ebenso wie die Häuser ringsumher von einer gewaltigen Hässlichkeit geprägt. Es ist grauer Beton, so weit das Auge reicht. Glaube nicht, mein beklommener Leser, dass es hier irgendwo etwas Grünes gibt. Sofern man von den Biomülltonnen absieht, die am Straßenrand stehen. Oder dass man hier Vögel scharren sieht. Oder dass hier dicke Spinnen in ihren noch dickeren Spinnennetzen hocken und zarte Rhythmen klopfen, die anno dazumal daheim noch wunderschön aus allen Spinnennetzen gedrungen sind.
Es gibt ja nur den Apfelbaum und der – und das ist es ja, was ich immer wieder sagen möchte, aber ich komme ja nie zum Punkt; das ist auch so ein Punkt, das Nie-zum-Punkt-Kommen, auf den ich später noch eingehen werde – ja, der Apfelbaum ist einfach zu hoch. Verstanden? Ist das angekommen? Er ist zu hoch. Und dabei ist er gar nicht so hoch. Ein größeres Kind, als ich es bin, könnte da empor klettern und von den goldenen Früchten naschen und zwischen den duftigen braunen Zapfen sitzen und singen und lachen und tanzen. Ich aber bin erbärmlich klein. So klein, dass ich beim Schlendern durch die Stadt achtsam den Kanaldeckeln ausweichen muss, um nicht durch die Spalten zu stürzen.
Das ist natürlich gelogen. Aber ich bin echt klein. Und manchmal komme ich mir noch kleiner vor, als ich es bin. Wie oft ich schon versucht habe, auf den Apfelbaum zu klettern, kann ich mich gar nicht mehr entsinnen. Schönes Wort übrigens: Entsinnen. Das sind so Familienwörter. Es gibt halt einfach Wörter, die benützt kein Mensch mehr. Bis auf eine Familie. Die benützt es ständig und deshalb wundert man sich als Kind, wenn man das Wort benützt und dann von seinen Mitschülern so sonderbar angeschaut wird. Es gibt aber auch andere Wörter, die familienintern ganz falsch verwendet werden, was man später schmerzlich im sozialen Umgang erfahren muss. Wortwendungen wie „nah zum Wasser gebaut“ gibt es nicht, weil es „nah am Wasser gebaut“ heißt. Innerhalb unserer Familie wurde diese Redewendung aber immer falsch gebraucht, was ich am Anfang nicht wusste und dann furchtbar peinlich fand. Heute aber ... heute aber sehne ich mich danach, nochmal Papa oder Mama neben mir sitzen zu haben und das sagen zu hören. Nah zum Wasser gebaut. Weil es so wunderbar falsch ist. Weil es egal ist, ob es falsch ist, denn niemand anderes – auch der Duden – ist nicht von Bedeutung. Nur die Familie zählt. Die Familie und die Art ihrer Kommunikation. Sonst nichts.
Du wunderst dich sicher, warum ich als Kind schon mit so anspruchsvollen Wörtern um mich schmeiße, wie „sozialer Umgang“ oder „Kommunikation“ oder „anspruchsvoll“. Das liegt nur daran, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich ein Erwachsenen- oder ein Kinderbuch schreibe. Die paar wenigen Fremdwörter, die ich kenne, versuche ich daher behutsam in das Gesamtgeschreibsel einzufügen. Außerdem habe ich ein definitorisches Problem – Hui! Schon wieder ein Fremdwort –, denn ich finde, dass ein Buch, das von einem Kind geschrieben wird, ja eigentlich immer ein Kinderbuch ist. Auch wenn es für Kinder ungeeignet wäre. Da haben wir wieder die Ungerechtigkeit auf der Welt. Erwachsene können sich entscheiden, ob sie ein Erwachsenen- oder ein Kinderbuch schreiben wollen, wir Kinder aber sind an dieses eine blödsinnige Genre gebunden. Aber nicht mit mir. Mein Kinderbuch wird euch das Maul stopfen!
Oh, Entschuldigung! Dich habe ich natürlich nicht gemeint, mein abstrakter Lesefreund. Sicher bist du ein Kind und ganz auf meiner Seite. (Man beachte hier das Wortspiel!)
Ich bin also klein. Unfähig auf Bäume zu steigen. Ach, was heißt schon „Bäume“? Es gibt ja nur mehr diesen einen. Und ich bin ein Mädchen. Und außerdem habe ich keinen Charakter.
Das glaubst du nicht? Jeder hat doch einen Charakter, sagst du? Nun, ich nicht! Ich bin total charakterfrei. Deshalb komme ich nie zum Punkt. Ich muss immer mehr und immer mehr erzählen, weil ich im Grunde nichts zu erzählen weiß. Mein ganzes Buch – dieses hier, meine ich – wird ein scheußliches Blätterwirrwarr von nutzlosen Erzählschritten werden, die mich ebenso wenig interessieren wie dich. Aber ich muss es einfach aufschreiben. Und glaub mir, ich wusste anfangs nicht, wie ich es hinschreiben sollte. Ich wollte es zuerst wie ein Märchen aufziehen: „Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Maja ...“
Oder ich hätte einen Briefroman geschrieben, an mein Unterbewusstsein vielleicht: „Hallo Untermaja, hier spricht Maja ...“
Das Problem an der Sache ist, dass die Geschichte, die ich hiermit beginne, noch nicht passiert ist. Ich will aber, dass sie passiert, und ich habe das Gefühl, dass schöne Dinge eintreffen, wenn ich parallel