Den Tod für Tante Trudl!. Lukas Wolfgang Börner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lukas Wolfgang Börner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741819766
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Knoten, an dem die Gedankenballons miteinander verbunden sind. Wenn kein Knoten, also kein Charakter vorhanden ist, fliegen die Gedanken ungezügelt herum. Sie sind frei. Das ist vielleicht das einzig Positive daran. Die Gedanken sind frei! Dennoch ist ein Charakter erstrebenswerter.

      Ach, jetzt habe ich schon so viel geschrieben und wollte doch eigentlich nur einen Steckbrief präsentieren, der dir meine Eigenheiten – nicht zu verwechseln mit Charaktereigenschaften – nahelegt; das ist bei Kinderbüchern so üblich. Dass man am Anfang alles über die Hauptperson erfährt, meine ich. Erwachsenenbücher benötigen oft ihre gesamte Seitenzahl, um die handelnden Personen zu beschreiben. Aber ich bin ja leider an das Kinderbuch gebunden. Deshalb werde ich dir nun alles erzählen, was ich über mich weiß. Damit du bei der schrecklichen Handlung recht mitfiebern kannst.

      Aber dieses Kapitel ist schon zu voll dafür. Ich fange also nochmal von Neuem an.

      *

      Sodala. Jetzt werde ich dir meinen Steckbrief präsentieren. Ich schreibe dazu einfach die Zeilen ab, die ich dem blöden Nachbarsmädchen ins Poesiealbum geschrieben habe. Und das ist im Grunde nichts anderes als ein Steckbrief. Da steht dann sowas, wie „Meine Hobbys sind ...“ oder „Mein Lieblingsfilm ist ...“ oder so. Total dämlich. Wenn Dinge drin stünden wie „Mein Lieblingswort ist ...“ oder „Die Heldentat meines Lebens wäre ...“ oder „Meine liebste Mückenart ist ...“, dann könnte man sich richtig schöne Gedanken machen. Man würde sich fragen, was es für Mückenarten gibt und welche besonders sympathisch oder heimtückisch sind. Man würde über seine Heldentaten nachdenken, die man im Laufe des langen Daseins vollbringen könnte. Man könnte Worte wie „Gang“ oder „werfen“ zu den Lieblingswörtern des Bewusstseins erklären. Stattdessen füllt man so einen beschissenen Steckbrief aus. „Lieblingslied“, „Lieblingsessen“, „Meine beste Freundin ist ...“. Zum Kotzen!

      Du merkst, ich kann fluchen. Aber du würdest es nicht für möglich halten, welche anderen Kraftausdrücke in mir schlummern. Für eine Fünftklässlerin bin ich ganz schön auf Zack.

      Zum Beispiel – nur ein Beispiel jetzt – könnte ich bei der Zeile „Mein Spruch für dich“ folgendes reinschreiben:

      Dein Dasein wurmt in jeder Weise,

      du mutterfickendes Stück Scheiße!

      Ja, das könnte ich schreiben. Und damit hätte ich jedes meiner Gefühle gegenüber dem Mädchen zum Ausdruck gebracht. Ich wäre dazu fähig. Ich bin überhaupt zu vielem fähig. Das ist der Vorteil, wenn die Gedanken frei sind, weil man keinen Charakter hat.

      Neulich habe ich zu meiner Tante Trudl gesagt, dass ich nicht mit dem Mädchen spielen würde, weil das eine – ich sag’s jetzt nicht, was – wäre. Da hat mir Tante Trudl Zimmerarrest verpasst. Und ich habe ihr deshalb ins Gesicht gespuckt.

      Du siehst, ich habe keinerlei Hemmungen.

      Hoppla, jetzt habe ich wohl meine Geschichte als Kinderbuch selbst aus dem Rennen geschickt. Seltsam, wie schnell das geht ... naja, es sind ja auch schlimme Ausdrücke. Seit gestern verwende ich sie gar nicht mehr. Das ist aber nicht Tante Trudls Schuld.

      Vorletzte Nacht sind meine Eltern wiedererschienen. Ich lag gerade in meinem Bett und konnte gar nicht einschlafen. Schatten huschten über die Wände und von fern war das sachte Läuten einer Kirchenglocke zu hören. Die Luft roch wie immer. Gesund.

      Tante Trudl ist sehr auf Gesundheit bedacht. Sie hält immer das exakte Maß an Pflanzen und offenen lüftenden Fenstern ein, die Kleider und Betten und Vorhänge sind immer gerade so frisch gewaschen, wie es notwendig ist, dass es weder muffig noch zu sehr nach Waschmittel riecht. Und so ist sie in jeder Lebenslage. Sein Essen bekommt man nach einer Nahrungspyramide: Viele Vitamine, mittelviele Kohlenhydrate und wenig Fleisch. Ab und zu Zuckerwerk.

      Sie möchte, dass ich ein- bis zweimal die Woche Sport treibe, ein Instrument spiele und Bücher lese. Von Fernsehen, Computerspielen und Handybenutzung hält sie nichts.

      Das Problem ist, dass zumindestens das Handyverbot meine alten Freundinnen von mir trennt. Mia-Francesca und Silvia durften nämlich – im Gegensatz zu mir – in Tupfing bleiben und ich kann sie nicht ständig aufs Festnetz anrufen, weil die ja nicht immer daheim sind. Ich müsste ihnen simsen, aber das geht ja nun nicht mehr.

      Ach ja, das Leben ist sehr, sehr gesund bei Tante Trudl. Sie sieht auch ganz gesund aus. Dafür, dass sie eigentlich Jertrud heißt und straff auf die Hundertsechzig zugeht, sieht sie ganz fit und gut aus. Sie hat durchaus keine tiefen Falten im Gesicht und auf ihrer Nase wächst keine Warze. Aber die Milch, die sie jeden Morgen von irgendeinem fernen Bauern geliefert bekommt, ist schwarz.

      Jeden Morgen, Tag für Tag, sitze ich vor diesem Milchglas und mir vergeht der Appetit. Ich bin eine Milchtrinkerin. Und Tante Trudl weiß das. „Was ist mit dir?“, fragt sie mich dann. „Willst du deine Milch nicht trinken?“

      Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen. Manchmal möchte ich einfach sagen: „Die Milch ist schwarz.“ Aber dann fügt Tante Trudl hinzu, dass dies die beste und gesündeste Milch sei und die Kühe so glücklich wären und so und so und so. Und ich trinke die schwarze Milch. Jeden Tag trinke ich sie.

      Tja, und so roch auch an diesem Abend die schwarze Luft. Gesund und sicherlich von glücklichen Pflanzen ausgepupst.

      Und ich liege wach und starre auf die Schatten und alles ist tränennass und ich kann nicht schlafen. Ich nehme wie jeden Tag mein Kopfkissen, öffne das Fenster und wringe es aus, dass es auf den Terrassensteinen nur so platscht und spritzt. Dann lege ich mich wieder zu Bett.

      Und wie ich wieder an die Zimmerdecke schaue, sehe ich die Schatten meiner Eltern. Papas dicke Silhouette und Mamas zierliche Gestalt. Und der dicke Schatten hebt den Schattenzeigefinger und wackelt dann damit, als wolle er sagen: Wehe, wehe!

      „Wieso, wieso?“, rufe ich in das stille Zimmer hinein. „Was habe ich denn getan?“

      „Du machst eine schlimme Zeit durch“, raunt es plötzlich von dem Schatten meiner Mutter zu mir ans Bett.

      „Du musst dir nicht alles gefallen lassen,“ fügt Papa hinzu, „aber bewahre deinen Stil. Das höchste Gut ist die Freiheit. Das zweithöchste ist der Stil.“

      „Papa! Mama!“, schreie ich und springe aus den nassen Kissen heraus. Doch da sind die Schatteneltern schon verschwunden. Im nächsten Moment steht Tante Trudl in der Tür. Sie trägt einen braunen Schlafanzug und ihre Stirn ist in Sorgenfalten gelegt. „Hast du schlecht geträumt?“, fragt sie und ihre gesunden roten Backen verwandeln meine anfängliche Trauer in Zorn. Selbst wenn diese Person mitten in der Nacht an einem Werktag aus dem Schlaf gerissen wird, schaut sie gesünder aus als jedes Model einer Reformhauswerbung. Sie will mich anfassen, aber ich weiche zurück und verstecke mich unter meinem Bettzeug. Die beschwichtigenden Worte Tante Trudls machen alles nur noch schlimmer. Mit zischenden und fauchenden Lauten mache ich ihr klar, dass ich kein Interesse an ihrem Mitleid habe. Endlich verlässt sie das Zimmer. Dann erst werden meine Gefühle zurückverwandelt und ich weine wieder.

      Aber ich habe nicht vergessen, was meine Eltern gesagt haben. Ich muss den Stil bewahren. Deshalb habe ich mir geschworen, nicht mehr zu spucken und mit Schimpfwörtern um mich zu schmeißen.

      Außerdem habe ich meine Tante gestern gebeten, in den Keller umziehen zu dürfen. Dort war nämlich bis dato ein Gästezimmer, weil im ersten Stock, wo sich ihr und mein Schlafzimmer befanden, kein Platz dafür war. Ich hatte mich von Anfang an schon nicht wohlgefühlt, so dicht neben Trudls Zimmer zu schlafen. Nun trieb mich aber auch die Tatsache, dass im Keller mehr Schatten sind als im ersten Stock, dazu an, diese Bitte zu äußern.

      Vielleicht mag dir das albern erscheinen. Aber es ist die Wahrheit. Du denkst, Schatten sind nur dort, wo auch ein bisschen Licht ist, weil man ohne etwas Licht ja keine Schatten sehen kann, aber da irrst du dich. Zum Beispiel fällt einem die Stille eines Raumes beim leisen Ticken einer Uhr besser auf, stiller ist es aber, wenn gar keine Uhr tickt. Die Menschen bemerken sie dann nur nicht, aber das hat