Den Tod für Tante Trudl!. Lukas Wolfgang Börner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lukas Wolfgang Börner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741819766
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zu werden. Ich brauche Schatten.

      Tante Trudl hat mir den Wunsch gewährt; unter der Bedingung, dass ich sie nicht mehr Trudl, sondern Jertrud nenne. Ich habe diesem Deal zugestimmt, aber ich werde mich nicht daran halten. Es heißt: Ein Mann, ein Wort. Aber ich bin ja kein Mann. Wenn ich erst einmal mein ganzes Hab und Gut hier unten habe – und das meiste davon ist bereits hier –, dann werde ich sie wieder Trudl nennen. Schlicht und einfach aus dem Grund, weil sich mich ja auch nicht Maja, sondern bloß Steffi nennt.

      Das war also die Geschichte, wie ich in den Keller gezogen bin, wo ich auch jetzt gerade sitze und schreibe. Eigentlich hätte an dieser Stelle ja der Steckbrief kommen sollen.

      Ach, schei... ich meine ... pfeif drauf!

      *

      Das letzte, was ich mit meinen Eltern unternahm, war ein Italienurlaub in einer kleinen Bucht namens „Buonasera“ oder so ähnlich. Ich weiß es nicht mehr genau. Die anderen Begebenheiten dieses Urlaubs haben sich zu tief in mein Gedächtnis gebrannt, als dass ich mir unbedeutende Kleinigkeiten wie Namen noch merken könnte. Das einzigste, was ich außer der Katastrophe, dem Schicksalsschlag, diesem ... diesem ... ach, mir fehlt es ja an Worten, um das zu beschreiben, was mein Leben so jäh umkrempeln sollte, was mich hier her, in diesen Keller unter Tante Trudls Haus gebracht hat, was die alleinige Schuld an meiner ersten Begegnung mit der Qual trägt. Ach, es ist so schrecklich. So schrecklich. Und so lächerlich!

      Ich weiß gar nicht, wie ich dir, du heimtückischster aller Leser, diese Tragödie beibringen soll, damit du recht weinst, so wie ich es jeden Abend tue. Es ist ja alles so lächerlich. Und ich fürchte mich so, du würdest lachen. Du würdest deinem Gesicht einen mitleidigen Anstrich geben, im tiefsten Innern würde es dich aber zerreißen vor Lachen. Ich weiß, dass es vielen so gegangen ist. Ich habe es danach in ihren Augen und an ihren geröteten Gesichtern gesehen. Tiefe Trauer und schlimme Bestürzung liegen nicht weit vom irren Gelächter entfernt, das weiß ich jetzt. Es gibt Todesfälle, die einen zuerst belustigen, bis man den schrecklichen Ernst dahinter begreift.

      Stell dir beispielsweise vor, du säßest in einem Wirtshaus – es wurmt mich, von Wirtshäusern zu schreiben, denn hier, wo ich jetzt bin, gibt es keine Wirtshäuser, nur Gaststätten, wo sie die Teller reichlich mit „Buttermöhrchen“ und „Buttererbschen“ beladen. Dafür sind die angebrannten Schuhsohlenschnitzel aber umso kleiner; pfui Teufel! Wenn man nicht kochen kann, sollte man’s halt bleiben lassen! – also, nochmal: Stell dir vor, du säßest in einem Wirtshaus in Tupfing oder in Wien oder in Mailand oder sonst an irgendeinem Ort, wo es charakterlich aufrechte Menschen gibt, die richtige Schnitzel auf den Tisch bringen: Tellergroß und an der dunkelsten Stelle beige, dabei aber so dünn, dass man es als Lesezeichen verwenden könnte, wenn man sich nicht wie ein Wahnsinniger darauf stürzen und es hinunterschlingen würde.

      Ach, Mann, ich komme schon wieder vom Hundertsten ins Tausendste. Das liegt daran, dass ich Hunger habe. Das Nahrungspyramidenessen und das Unvermögen des hiesigen Menschenschlags, richtig zu kochen, haben mich schlank werden lassen. Vor lauter Appetit auf ein gescheites Schnitzel habe ich einmal sogar mein Taschengeld gespart und bin durch die Großstadt getigert – ich gebrauche diesen Ausdruck absichtlich, denn ich fühlte mich wie ein wahnsinniger Tiger auf der Jagd – und bin zuletzt in ein „Schnitzelhaus“ eingekehrt, weil ich dachte, wo Schnitzelhaus dran steht, ist auch Schnitzelhaus drin. Ich habe mir das teuerste Schnitzel bestellt, dazu eine Coke und eine extra große Portion Kartoffelsalat. Während der Kellner fröhlich mit meiner Bestellung in der Küche verschwand, wartete ich zitternd vor Aufregung auf mein Essen. Endlich einmal keine Nahrungspyramide, dachte ich mir. Zuerst kam der hoch gewachsene Kellner zurück und brachte mir die Cola. Er war bester Laune. Das sind die Leute hier übrigens immer. Es ist eine der größten Kuriositäten der Welt, dass die Menschen in schönen Gegenden immer schlecht gelaunt und die Menschen in kreuzabgefuckten Gegenden gut gelaunt sind. Das verstehe, wer will! In Tupfing hatte man noch das Gefühl, dass man sich bei den Kellnern und Köchen entschuldigen musste, dort essen zu gehen. Neu eröffnete Buchhandlungen und Spielzeugläden betrat man nur mit beklommenem Gefühl, weil die Verkäuferinnen so griesgrämig waren, dass man es wirklich mit der Angst bekam. Erst nach mindestens vier gekauften Spielzeugen oder Büchern weichten diese Frauen dann auf und ließen sich zu einer freundlichen Grimasse hinreißen. Aber hier?

      Die Leute wohnen zwischen oder in grauen Betonblöcken, schauen – wenn sie einmal Gelegenheit haben, in die Ferne zu schauen – auf eine weite ebene Fläche ohne Berge, ohne Täler und haben trotzdem immer gute Laune. Sie begrüßen einen auf der Straße, in den Geschäften, unterhalten sich mit einem, haben auch Töchter, die vielleicht in meine Klasse gehen und so weiter und so weiter. Manchmal frage ich mich, ob es der Gedanke an den Sommerurlaub ist, der einen Menschen glücklich oder wütend macht. Während ein Tupfinger sich jedes Jahr wieder ärgern muss, so viel Geld für einen Urlaub ausgegeben zu haben, wo es keine schönen Berge und Seen und prunkvollen Schlösser und wunderbare Schnitzel gibt, können sich Tante Trudl und ihre Komplizen das ganze Jahr auf ihren Urlaub vorbereiten. Und sie können ja wirklich in die ganze Welt fahren, denn so scheußlich wie daheim ist es wohl auch in der Sahara nicht.

      Die Cola war noch ok. Aber dann, dann kam das Schnitzel. Und ich hatte gute Lust, den Teller zu packen und dem spaßigen Kellner um die Ohren zu schmeißen. Denn es bestand wieder nur ein Viertel des Tellerinhalts aus Schnitzel. Der Rest war wie gewöhnlich mit Buttermöhrchen und Buttererbschen aufgefüllt. Wo haben die Leute das nur gelernt, alles mit diesem an sich schon ekligen Gemüse – von der Zubereitungsart möchte ich gar nicht reden – aufzufüllen? Sie tun das, wie andere Leute Styroporkugeln in Pakete mit zerbrechlicher Ware kippen. Warum??

      Jetzt wirst du gegenfragen: Was war denn mit der extra Portion Kartoffelsalat? Das will ich dir schon beantworten: Das war ein Eimer Mayonnaise!

      „Wo sind denn die Kartoffeln?“, habe ich den Kellner gefragt und konnte mich der Tränen bald nicht mehr erwehren. Da hat er nur gelacht und in die Mayonnaise gezeigt. Und tatsächlich! Da schwammen zwei, drei Stückchen herum, die ein wenig an Kartoffeln erinnerten.

      Wie mir der Magen knurrt!

      *

      Stell dir also vor, du sitzt im Wirtshaus. Du sitzt unter dem Bild des Königs und erfreust dich an einem königlichen Schnitzel und trinkst eine Cola. Oder, wenn du doch schon ein Erwachsener sein solltest, dann trinkst du halt ein Bier oder ein Weißbier. Deine große Familie sitzt um dich herum. Alle sind lustig und feiern und lachen. Dein Onkel trinkt wie immer etwas mehr und beginnt irgendwann auf die Ausländer zu schimpfen. Dann fährt ihm dein Vater über den Mund, der auch schon etwas angetrunken ist. Mit der Zeit bekommen sie rote Köpfe und lassen sich nicht mehr ausreden. Das wiederum belustigt die restliche Familie, man hält sich den Bauch vor Lachen, wie die anfangs spaßige Diskussion immer hitziger wird und irgendwann Kraftausdrücke fallen. Das sind aber keine echten Kraftausdrücke, weil ja Kinder anwesend sind. Es sind Ausdrücke wie: Rindvieh, Vollhirsch, Halbdackel und Hodenkopf. Irgendwann liegen sich Onkel und Vater in den Armen und sinnieren über die guten alten Zeiten.

      Und jetzt stell dir vor, die ganze Familie außer dir selbst würde auf einmal wie vom Schlag getroffen umkippen. Von einer Sekunde auf die andere. Als wenn jemand mit den Fingern geschnipst hätte, so plötzlich werden die Augen glasig und die Köpfe fallen auf den Eichenholztisch. Und es wäre mit einem Mal totenstill.

      Was würdest du im ersten Moment tun? Richtig. Du würdest lachen! Du würdest selbst den Kopf auf den Tisch schmeißen, aber nicht weil du plötzlich tot bist, sondern weil du etwas entsetzlich Komisches erlebt hast. Ja, du würdest sogar lachen, wenn du genau wüsstest, dass deine ganze Familie, die ganze lustige Gesellschaft von gerade eben jäh verstorben ist.

      Und das ist das Fürchterliche daran. Irgendwann wird sich dein Lachen in Weinen verwandeln. Es ist ein fließender Übergang. Du weißt gar nicht, wann du zu weinen begonnen hast. Nach Stunden des Weinens lachst du mal wieder, weil es in all seiner Tragik so lächerlich war. Das ist aber fürchterlich! Denn es ist dir unmöglich, deine Trauer