Der Trockene Tod. Alexander Köthe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander Köthe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754177211
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schwang er sich in den Sattel und blickte aufbruchsfreudig in die Weite der Landschaft. Es war ein klarer Tag, sodass Niekas in der Ferne hinter einer breiten Wüsten-Schneise drei riesige graue Industrie-Schornsteine erkennen konnte, die vor langer, langer Zeit einmal schädlichen Rauch in die Luft gespuckt und damit die Natur zerstört hatten. Aber auch dieser Anblick, der ihn normalerweise betrübte, konnte seine Stimmung heute nicht gefährden.

      Niekas langte in die Satteltasche, holte seinen Audio-Abspieler heraus und setzte sich die beiden dazugehörigen schwarzen Schallmuscheln auf seine grünen, runden Ohren. Er liebte laute, jahrhundertealte Gitarrenmusik, eines der wenigen Kulturgüter aus der ‘Alten Zeit’, die er für absolut erhaltenswert hielt.

      Als die Musik seine Trommelfelle fast zum Platzen brachte, grinste er breit übers ganze Gesicht.

      “Auf gehts, Brauer! In ein paar Stunden sind wir in Istendah.”

      9 2 7 n a c h A n b r u c h

      d e r N e u e n Z e i t

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      2 t e r T a g i m 1 t e n M o n a t

      d e r Z e i t d e r B l ü t e

      A m M o r g e n

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      I s t e n d a h / F ö r F r e m d i g a r

Image

      Es war erst wenige Minuten her, da die ersten sanften Lichtstrahlen begonnen hatten, die Dunkelheit zu vertreiben. Doch noch hatte das Licht nicht gewonnen. Es gewann zwar an Kraft, aber die Schatten wehrten sich vehement und noch erfolgreich.

      Dies geschah jeden Tag und stets hatte das Licht den Kampf gegen die Dunkelheit gewonnen. Wann würde der Zeitpunkt kommen, da das Licht unterlag?

      …

      Luhni Mahjos erwachte ruckartig mit einem Schrei auf den Lippen und setzte sich kerzengerade auf. Er hatte geträumt - von IHR. Wieder.

      Mit vor Aufregung unruhig klopfendem Herzen musterte er seine Umgebung. Er lag auf einer zu harten Matratze in einem hölzernen Bett, das in einem kleinen Zimmer stand, dass er gestern am Abend im ‘För Fremdigar’ gemietet hatte.

      Lu gab einen erleichterten Seufzer von sich.

      Keine Höhle.

      Die Herberge, ein weitläufiges zweistöckiges Gebäude aus weißen Backsteinen mit großen, schwarz gestrichenen Kunststoff-Sprossenfenstern, lag am Rande des Hafenviertels, nahe des Flusses Sanzea, am Übergang zum Marktviertel und damit in aussichtsreicher Position, viele fremdländischen Gäste aufzunehmen, die Istendah besuchten.

      Als Lu eingetroffen war, hatte der schwarze Schornstein, der einsam auf dem mit roten Tonziegeln gedeckten Satteldach stand, weiß-gräulichen Rauch ausgestoßen. Ein seltener Anblick.

      Durch das Dachfenster seines Zimmers traten die ersten Sonnenstrahlen und blendeten ihn. Es musste noch sehr früh am Morgen sein.

      Lu sah einige Schnapper, die auf dem Dach der Herberge herum sprangen und nach einem leckeren Frühstück Ausschau hielten. Sofort erinnerte er sich an den gestrigen Abend, an Schnapper, die sich über einen grausam entstellten Körper hergemacht und große Fleischstücke aus der geschundenen Leiche gerissen hatten, ohne dass er es hatte verhindern können.

      Die Erinnerungen trübten sein Gemüt, aber er wusste, dass er richtig gehandelt hatte, um sich selbst zu schützen.

      Gestern Abend, nachdem er den Tatort verlassen hatte, war Lu zur Hafenmeisterei Istendahs gelaufen, wo er sein Reisegepäck seit seiner Ankunft am Morgen deponiert hatte. Der Hafenmeister selbst war nicht mehr da gewesen, aber sein Vorarbeiter hatte ihm die Sachen ausgehändigt und angeboten, sie von seinem Laufburschen zur Herberge bringen zu lassen, was Lu dankend angenommen hatte.

      Beim ‘För Fremdigar’ hatte er dem Burschen, Jako, ein ordentliches Trinkgeld gegeben, nicht nur wegen des Transports seiner Sachen, sondern weil Jako ihm auch darüber hinaus seine Hilfe angeboten hatte, zum Beispiel als Fremdenführer oder für Besorgungen. Und jemanden wie Jako, einen kräftigen Burschen, der sich zudem auch noch ausgezeichnet in Istendah auskannte, konnte Lu womöglich früher oder später tatsächlich gebrauchen.

      Nach einem schnellen Nachtmahl, bestehend aus Eintopf mit Möhren, Knollengemüse und ein paar Stücken undefinierbaren Fleisches, war Lu sofort auf sein Zimmer gegangen, hatte die einmal komplett durchnässten und wieder getrockneten Kleider über einen Stuhl gehängt, sich aufs Bett geschmissen und war nach den wahrhaft anstrengenden Geschehnissen des Tages fast sofort eingeschlafen.

      Langsam schwang Lu seine Beine vom Bett, gähnte noch einmal ausgiebig und ließ seinen Blick durch sein kleines Reich schweifen, was mindestens für die nächsten paar Tage sein zu Hause sein würde.

      Das Zimmer im ersten Stock der Herberge war nur spärlich eingerichtet. Neben zwei einzelnen Betten ergänzte ein kleiner hölzerner Tisch mit zwei braunen Plastikstühlen und ein Metall-Schrank, dem eine Tür fehlte, das Mobiliar. Zudem gab es ein kleines Beistelltischchen, auf dem eine billige Vase mit einigen halb vertrockneten Kräutern stand.

      Im Nebenraum befand sich ein kleines Bad mit Toilette, Waschbecken und einer kupfernen, beheizbaren Wanne.

      Lu grinste.

      Standard für das moderne Istendah.

      Er ging zum Waschbecken und drehte an einem kleinen eisernen Rad. Lauwarmes Wasser sprudelte daraufhin aus einem dünnen Rohr, das aus der Wand heraus ragte. Lu tauchte seine zur Schale geformten Hände hinein und wusch sein Gesicht. Gleichzeitig versuchte er, seine Gedanken an den Albtraum von letzter Nacht, seine Gedanken an SIE, wegzuwischen.

      Ohne Erfolg.

      Lu benetzte ein letztes Mal sein müdes Gesicht und strich dabei über eine kleine Narbe an seinem Hals.

      Ein Wunder, dass ich in all den Kämpfen gegen die Kreaturen des Widernatürliche nur diese eine Narbe davongetragen habe.

      Verletzt wurde Lu schon oft, meist leicht, selten wirklich schwer, aber die Wunden waren alle gut verheilt, zumindest die Körperlichen. Die Seelischen würden wohl nie gänzlich vergehen.

      Immer noch gedanklich an seinen Albtraum gefesselt, zog Lu seine dunkelbraune Hose aus Spireos-Echsenleder, verstärkt mit Keweler-Stoff, der quasi undurchdringbar für fast alle Arten von Waffen war, seine schwarzen Stiefel und ein gleichfarbiges Baumwollhemd an. Dann schnallte er seinen breiten, braunen Ledergürtel um, griff seine schwarze Jacke aus Riesenwildschweinhaut, öffnete die Tür und betrat einen mit blauem Teppich ausgelegten Gang. Dieser endete bei einer schmalen hölzernen Treppe, die ihn hinunter zum Schankraum führte, wo er sich ein ordentliches Frühstück genehmigen wollte.

      Als Lu seinen Fuß auf die letzte Treppenstufe setzte, knickte sein Bein plötzlich unter ihm weg. Schlagartig durchfuhr ein grässlicher Schmerz seinen linken Unterschenkel, gleich einer glühenden Eisenzange, die mit unmenschlicher Gewalt sein Bein erbarmungslos umschloss.

      Mit schmerzverzerrtem Gesicht schleppte sich Lu humpelnd in den Speiseraum und setzte sich an den ersten freien Tisch auf einen grünen Plastikstuhl. Sofort umfasste er sein Bein mit beiden Händen, zog die Hose hoch und erschauderte.

      Sein linker Unterschenkel war ringförmig von blauen Flecken umschlossen, wie wenn er über Nacht eine zu enge Beinfessel getragen hätte oder …

      Lu erschrak, als ihm die Details seines Albtraums ins Bewusstsein flossen.

      … wie wenn sich jemand - oder etwas - krampfhaft an sein Bein geklammert und es mit der Kraft eiserner Schraubzwingen festgehalten hätte.

      Benem!

      Er betrachtete die Verletzung etwas genauer und strich mit der rechten Hand darüber. Es tat weh. Nicht sehr, aber doch merklich.

      Das, was ihm letzte Nacht passiert war, musste mehr gewesen sein als ein normaler Traum.

      Aber was?

      Seine