„Sie brauchen mir nicht zu assistieren, Schwester Johanna. Das kann Fräulein Reichenbach übernehmen. Dank Ihnen kennt sie sich zweifellos bestens mit der Materie aus.“ Er blinzelte der jungen Pflegerin verschwörerisch zu.
Erst jetzt fiel mir auf, dass deren weiße Haube gegen eine dunkle eingetauscht worden war. Solche standen nur echten Diakonissen zu und unterschieden diese von den normalen Pflegekräften. Johanna hatte also inzwischen ihren Eid abgelegt und wurde nun offiziell als Schwester tituliert. Allerdings würde keine wie auch immer geartete Kopfbedeckung ihren rebellischen Haarknoten vor der Auflösung retten können.
Nachdem Schwester Johanna fluchtartig den Raum verlassen hatte, räusperte er sich und sagte zu Sophie gewandt: „So, junge Dame. Schauen wir mal, ob der Hustensaft seinen Dienst verrichtet hat. Das mit dem Abhorchen kennst du ja. Deine Schwester wird dir jetzt das Hemd öffnen.“ Auffordernd schweiften die Augen des Doktors in unsere Richtung, bevor er sich aufs Krankenbett setzte, um mit zwei Fingern nach dem Handgelenk der Patientin zu tasten. Widerspruch oder Arbeitsverweigerung standen offenbar nicht zur Debatte.
Marie begann gehorsam die Knöpfe des Kittels aufzumachen, bis er „Das genügt, danke“ sagte.
Behutsam drückte der Doktor das Hörrohr nun auf die kindliche Brust. Den Kopf schieflegend, schob er sich das andere Ende des Trichters ans Ohr. „Versuche mal zu husten.“
Die kleine Patientin strengte sich an und brachte etwas Hustenähnliches zustande. „Das hört sich schon viel besser an. Als nächstes kommt dein Herz dran.“ Er verrückte das Rohr etwas und lauschte wiederum mit ernstem Gesichtsausdruck.
Marie und ich bekamen unterdessen Gelegenheit, Doktor Langholz zu beobachten. Er sah auch bei Tageslicht betrachtet recht attraktiv aus, von seiner bleichen Haut und der altmodischen Frisur einmal abgesehen. Für einen Mann besaß er ausgesprochen schöne Hände. Außerdem gefiel mir sein dominantes Kinn, welches von einem kleinen Grübchen abgemildert wurde. Und sein Mund war der absolute Hammer, entschlossen und doch sensibel. Ich musste unwillkürlich an unseren nächtlichen Kuss denken, was zur Folge hatte, dass sich ein sehnsüchtiges Kribbeln in mir breitmachte. Gleichzeitig kaute ich hart an der Erkenntnis, neulich mit einem Gynäkologen das Bett geteilt zu haben, zumindest mental und im Traum.
"Möchtest du auch mal horchen?“
Schuldbewusst zuckte ich aus meinen unlauteren Gedanken hoch und sah die Kleine eifrig bejahen.
„Gut, dazu bräuchten wir aber eine Patientin.“ suchend schaute er sich im Raum um, bis sein Blick bei uns hängen blieb. „Wie wäre es mit deiner Schwester?“, meinte er dann, als wäre ihm die Idee gerade erst eingefallen.
Sophies bernsteinfarbene Augen leuchteten vor Begeisterung. Marie dagegen gab sich keine Mühe, motiviert zu wirken.
Das störte den Doktor nicht im Geringsten. Er nahm den Trichter von Sophies Brust und reichte ihn über das Bett. „Lassen Sie mal sehen, ob Schwester Johannas Lehrbücher bei Ihnen Früchte getragen haben. Setzen Sie das Hörrohr bitte auf Ihr Herz. Sie dürfen das Kleid dafür ausnahmsweise geschlossen lassen.“
Marie hielt das Untersuchungsinstrument unschlüssig in der Hand und brachte vor lauter Verblüffung erst einmal kein Wort heraus. Endlich stammelte sie: „W… Woher wissen Sie…?“
„Dass Sie medizinische Studien betreiben? Oh, es gibt in einem Krankenhaus deutlich weniger Geheimnisse als man landläufig denkt. Spannender fände ich zu wissen, warum Sie sich überhaupt für dieses Thema interessieren?“
„Ich möchte Diakonisse werden. So wie Schwester Johanna“, gestand Marie.
Wie bitte? Hatte ich mich verhört? Was sagte sie da? Wie kam sie denn auf so eine verrückte Idee?
„Das scheint mir ein recht ungewöhnlicher Wunsch für jemanden in Ihrem Alter zu sein. Den meisten jungen Frauen steht der Sinn doch eher nach Heiraten und eine Familie gründen“, argumentierte der Doktor. Natürlich, schließlich wollte er sie ja, wenn man meinen Träumen Glauben schenken durfte, demnächst zu seiner Frau machen.
Allerdings stand er mit diesem Wunsch vorerst alleine da. „Mein Ziel ist es, einen Beruf zu erlernen.“ Meine Ur-Uroma straffte bei dem Wort „Beruf“ unwillkürlich die Schultern und schob ihr Kinn vor. Dadurch versuchte sie offenbar ihrer schmächtigen Gestalt etwas mehr Würde und dieser revolutionären Idee einen gewissen Nachdruck zu verleihen.
Ihr Gesprächspartner quittierte dies mit einem Schmunzeln. Vielleicht täuschte ich mich aber auch, denn er kratzte sich sogleich, als jucke ihn der verdächtige Mundwinkel. „Und wenn es Sie irgendwann reut?“, gab er nach einer knappen Pause zu bedenken. „Diakonisse zu werden, stellt eine lebenslange Entscheidung dar.“ Er studierte bei diesen Worten Maries Gesichtszüge, als könne er darin die Ernsthaftigkeit ihrer Gesinnung ablesen.
Obwohl es meine Ur-Uroma merklich Mühe kostete, seinem durchdringenden Blick standzuhalten, nahm sie die Herausforderung an und schaute nicht weg. Ihre Stimme klang sogar forsch, als sie: „Das weiß ich, Herr Doktor“ erwiderte. „Es ist keine Marotte, da bin ich mir sicher. Ich habe es seit drei Jahren als Herzenswunsch und glaube nicht, dass sich in Zukunft an meiner Gesinnung etwas ändern wird. Ich bin der Überzeugung, dass ich die Ausbildung schaffen kann. Dazuhin wäre ich auf diese Weise in der Nähe meiner Schwester.“ Die Argumente waren, im Gegensatz zu ihrer sonstigen Schweigsamkeit, förmlich aus ihr herausgeplatzt.
Die Mimik ihres Gesprächspartners wirkte, als ob er einiges darauf zu entgegnen wüsste. Er unterließ es jedoch und meinte nur: „Das ist freilich Ihre ganz persönliche Entscheidung, Fräulein Reichenbach... Falls Sie die Aufnahme-Voraussetzungen erfüllen, wird sich das Mutterhaus bestimmt freuen, eine weitere tüchtige Schwester zu bekommen. Und jetzt zeigen Sie mir bitte, was Sie gelernt haben.“
Ich hatte parallel genug Stoff zum Nachdenken. Meine Doppelgängerin und potentielle Ur-Urgroßmutter schien es ernst, mit ihrem Berufswunsch zu meinen. Wie kam es dann, dass sie doch heiratete? Es war äußerst dumm, dass mir aktuell eine Menge wichtiger Informationen fehlten.
Doktor Langholz überprüfte als erstes den korrekten Sitz des Abhörgerätes, indem er genauso aufmerksam Maries Herzschlag lauschte, wie er es zuvor bei ihrer Schwester getan hatte. Dann nickte er zustimmend, gab das Ende des Rohres an Sophie weiter und schob es dieser ans Ohr. Damit das starre Gerät gleichermaßen Maries Brust und das Ohr ihrer Schwester berühren konnte, musste sich Erstere weit über das Bett beugen.
„Hörst du dieses schnelle Klopfen?“, erkundigte sich der Arzt bei der Kleinen. „So klingt ein Herz, wenn jemand aufgeregt oder gar ein wenig verärgert ist.“
Das Mädchen stieß als Antwort ein paar unartikulierte Laute aus.
Obwohl der Doktor diese garantiert nicht zu übersetzen vermochte, zwinkerte er seiner Patientin belustigt zu. „Ansonsten würde ich sagen, deine Schwester macht einen ausgesprochen gesunden Eindruck, oder was denken Sie, Frau Kollegin?“
Sein scherzhafter Tonfall trug bestimmt nicht dazu bei, Maries Herzschlag zu beruhigen. Auch nahm er keinerlei Rücksicht auf die unbequeme Position der unfreiwilligen Testperson.
Statt ihm zuzustimmen, schüttelte Sophie allerdings den Kopf. Zusätzlich zuckte ihre Hand.
Das irritierte den Fachmann. „Nicht? Du denkst, dass deine Schwester krank ist?“, hakte er erstaunt nach.
Dieses Mal nickte Sophie und versuchte ihm etwas mitzuteilen, was er wiederum nicht kapierte. Marie, die deutlich besser begriff, was ihre kleine Schwester da äußerte, zog energisch das Hörrohr weg, reichte es dem Doktor und brachte sich auf der gegenüberliegenden Bettseite in Sicherheit.
Allerdings machte das die Situation definitiv komplizierter, weil mein künftiger Ur-Uropa nun neugierig geworden war. „Deine Schwester hat Schmerzen“, vergewisserte er sich bei Sophie, denn das konnte selbst ein Unbedarfter aus ihrer Mimik deuten. „Wo hat sie denn die?“
Sophie bemühte