Trotzdem zeigte sich meine Besucherin ernsthaft erschüttert. „Wie kannst du nur freiwillig hier wohnen bleiben? Es wird höchste Zeit, dass du wenigstens einen Abend lang rauskommst. Zieh dir eine Jacke an und dann verschwinden wir.“ Sie war ausgehfertig gestylt, trug ihr blondiertes Haar als wilde Steckfrisur, Kriegsbemalung und hochhakige Stiefel, die Blicke auf ihre wohlgeformten Knie freigaben.
Ich schluckte sämtliche Entgegnungen hinunter, unter anderem die, dass ich meiner Meinung nach bereits ein abwechslungsreiches Abendprogramm besitze. Schließlich gehe ich regelmäßig in meinen Gesprächskreis, gebe Nachhilfe bei den Flüchtlingen und besuche meine Oma. Im Februar hatte ich es sogar mit einem Aquarellmalkurs versucht, wegen unübersehbarer Talentlosigkeit aber vorzeitig abgebrochen. Außerdem besitze ich ein altes Röhren-Fernsehgerät aus Mutters Zeiten. Wenn man schon GEZ-Gebühren bezahlt, sollte es wenigstens nicht umsonst sein.
Stattdessen fragte ich: „Was hast du vor?“
„Wir werden einen Mann für dich suchen.“ Als sie meinen rebellischen Blick bemerkte, fügte sie hinzu: „Das war ein Scherz. Ich weiß, dass wir dazu in eine Kirche müssten. Komm, wir verbringen mal wieder einen netten Abend miteinander.“
Einfachheitshalber kapitulierte ich. Auf dem Weg durch den nahegelegenen Stadtpark erkundigte ich mich dennoch nach den wahren Gründen für ihren selbstlosen Einsatz.
Die Antwort kam prompt. „Mensch Ronja. Warum wohl? Weil du meine Freundin bist, das gleiche für mich tun würdest und bereits mehrfach getan hast. Ich möchte nur an meine hirnschwache Affäre mit Jens aus der Marketingabteilung erinnern.“
Dies war ein dunkles Kapitel in ihrem Leben und allein, dass sie es freiwillig in Erinnerung rief, zeigte mir, wie ernst sie meinen Zustand einstufte. Sie hatte damals unter einer Art bulämischen Beziehungsstörung gelitten, was bedeutete, dass sie, obwohl sie gewusst hatte, dass dieser aalglatte Typ sie ausnutzte, einfach nicht die Finger von ihm hatte lassen können. Anschließend war sie regelmäßig auf meinem Sofa gesessen und hatte sich über ihre eigene Dummheit ausgekotzt.
„Ich mache mir Sorgen um dich, Kleine. Seit der Trennung von Flo läufst du rum, als ob du demnächst zu deiner eigenen Beerdigung müsstet. Echt jetzt, es gibt so viele nette Jungs auf dieser Welt. Da wird doch wohl einer dabei sein, den du nicht augenblicklich abblitzen lässt.“
„Ich will keinen Freund“, versuchte ich ihr starrköpfig klarzumachen.
Mit wenig Erfolg. Da schenkt sie sich mit meiner rumänischen Mitmieterin rein gar nichts. Erst gestern hatten wieder Kekse, nebst einem aktuellen Foto von Enkelsohn Sorin vor meiner Tür gelegen. Jetzt, wo ihm allmählich ein Bart wächst, fürchte ich ernsthaft, der gute Junge könnte seine Oma irgendwann mal besuchen kommen.
Mona rollte in gespielter Verzweiflung die Augen. „Selbstverständlich willst du einen. Wenn man von Hochzeitsnächten träumt, ist man förmlich wild darauf, seine Defizite auszumerzen.“
Ihr Blick sagte mir, dass sie mich durchschaute. Manchmal ist mir meine Freundin richtiggehend unheimlich. Oder trage ich mein Innenleben inzwischen derart unverstellt zur Schau, dass andere Menschen darin wie in einem offenen Buch lesen können? Dummerweise ähnelte es momentan sehr einem, nur wenige Seiten umfassenden, Groschenroman.
Wir endeten in einem Schnellimbiss. Sie bestellte einen Salat mit Hühnchen und ich Hamburger und eine Cola. Dazu aus Rache für heute Nachmittag ein paar Pommes, was mir immerhin ihren leidenden Blick einhandelte. Als Konsequenz hielt sie mir einen Vortrag über die Gefährlichkeit von gesättigten Fettsäuren, kanzerogenen Stoffen und kurzkettigen Aminosäuren.
Weil ich frisches Obst und Gemüse liebe und nur in ihrer Anwesenheit kulinarischen Ausrutschern schwer widerstehen kann, sagte ich einmal mehr nichts dazu und lasse sie seit Jahren in dem Glauben, mein Leben bestünde schwerpunktmäßig aus Fastfood.
An unserem Nebentisch ließ sich eine Familie nieder. Das jüngste Kind war behindert, saß im Rollstuhl und genoss den Ausflug unübersehbar. Es jauchzte ständig vor sich hin. Die anderen gingen sehr liebevoll mit ihm um. Als der Vater ihm mit seinem Stofftaschentuch den Speichel vom verzerrten Mundwinkel wischte, hätte ich fast geheult. Aus irgendeinem Grund berührte dieses Bild meine sentimentale Seite.
Vielleicht lag es daran, weil ich, als klar war, dass ein Lehramtsstudium für mich mangels Ausbildungsvergütung und wegen meiner schwerkranken Mutter nicht in Frage kam, kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, Heilerziehungspflege zu lernen. Ich hatte mich sogar um einen Praktikumsplatz bemüht. Aber die Arbeitszeiten und die Bezahlung waren nicht so, dass wir uns das hätten leisten können. Darum landete ich bei der Bausparkasse. Der Bausparvertrag, den ich seither besitze, tröstet mich nur geringfügig über meine verfehlten Ideale hinweg. Meine Mutter hat mich aber gelehrt, angefangene Dinge konsequent durchzuziehen. Daher brachte ich meine Ausbildung zu Ende und verpasste dann irgendwie den Absprung.
Als Mona und ich uns zu später Stunde auf den Heimweg machten, hatte ich sie wenigstens überzeugt, dass ich weder Suizid gefährdet bin, noch in nächster Zeit einem Kloster beizutreten gedenke. Ich gehöre zwar zur anderen Fraktion, doch Mona sieht das Thema Religion grundsätzlich überkonfessionell. Als Agnostikerin behält man so leichter den Überblick.
Kapitel 5:
Ich hatte die Traum-Sache bereits abgeschrieben, … deshalb staunte ich nicht schlecht, als ich in der nächsten Nacht vermeintlich aufwachte und merkte, dass ich mich erneut in einem anderen zeitlichen und räumlichen Umfeld befand. Dieses Mal lag ich aber nicht in einem Himmelbett, sondern saß am Tisch einer spartanisch ausgestatteten Mansarde.
Die junge Frau, deren Perspektive ich einnahm, versuchte bei flackerndem Kerzenlicht zu lesen. Ich vermutete, dass es die Bibel war. Allerdings wirkte die Schrift der Ausgabe dermaßen alt, dass sie für mich ein unüberwindliches Hindernis darstellte. Ich konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie in deutscher Sprache war. Das sich anschließende Gebet klang aber verdächtig nach Marie.
Mein Herz begann prompt schneller zu schlagen. Wo sie sich befand, konnte ihr Bräutigam kaum fern sein.
Wenige Minuten später stieg ich mit ihr zusammen eine schmale, knarrende Holzstiege hinunter. Das Interieur des herrschaftlichen Hauses sprach für die Zeit um 1900.
Dann kam der Schock. Die junge Frau blickte in einen trüben Spiegel und versuchte ihr Haar zu einem ordentlichen Zopf zu flechten. Eine verzerrte Version meiner selbst schaute mich an. Wir besaßen dasselbe schmale Gesicht mit großen, dunklen Augen unter dichten schwarzen Brauen und Wimpern. Ihre Locken kräuselte sich ebenso widerspenstig wie meine. Aber der dicke, geflochtene Zopf reichte bei ihr weit den Rücken hinab, während ich mein Haar schulterlang trage. Ihre Haut schien zudem deutlich dunkler als meine und von der Größe her ging sie mir bestenfalls zur Nase. Zumindest meinte ich das von der Relation zum Türrahmen ablesen zu können.
Die nächste Stunde verbrachten wir damit, in einem ungemütlich kühlen Haus Lampen anzuzünden, Feuer zu machen, Petroleum nachzufüllen und Wasser aufzusetzen, um anschließend das Frühstück für mehrere Personen zu richten. Es war gut, dass ich bloß Statistin sein musste, denn ich hätte bereits beim Feuer machen kapituliert. Das 21. Jahrhundert hat der Menschheit zwar jede Menge Fortschritt gebracht, die Fertigkeiten für die überlebenswichtigen Dinge scheinen aber teilweise verloren gegangen zu sein.
Natürlich hoffte ich die ganze Zeit, hinter der nächsten Ecke meinen Pseudoehemann auftauchen zu sehen. Wenn man schon getrennte Schlafzimmer bevorzugte, wohnte man doch sicher im gleichen Haus. Nirgends aber fand sich ein Anhaltspunkt für ihn. Ich begann mir bereits Sorgen zu machen. Hatten sie sich etwa getrennt? Oder war er gestorben? Dahingerafft von einer heimtückischen Krankheit, für die es damals keine Antibiotika gab. Der Krieg wäre eine weitere, plausible Erklärung für