Die Leute vom Gesprächskreis nennen mein Gefährt Methusalem und haben mir empfohlen, grundsätzlich nur halbvoll zu tanken, um bei dem demnächst unvermeidlichen Liegenbleiben den Wertverlust zu minimieren. Entgegen aller Unkenrufe und Spötteleien hat er mich aber noch nie im Stich gelassen.
Methusalem und ich kamen auch diesmal ohne Zwischenfall an, obwohl das Gebläse ständig aussetzte, das Radio bereits seit Jahren nicht mehr funktioniert und ich deshalb jedes undefinierbare Motorengeräusch ungefiltert mitbekomme.
Nachdem ich ihn im Parkhaus abgestellt hatte und über die Brücke Richtung Pflegeheim schlenderte, meinte ich ein Déjà-vu zu haben. Natürlich nicht in der Art, dass ich glaubte, schon einmal hier gewesen zu sein, denn das war ich unzählig viele Male in den letzten Monaten. Nein, mir fiel Maries Besuch bei ihrer Schwester in der Diakonissenanstalt ein. Etwas an dieser Umgebung erinnerte mich daran. Es sah ähnlich aus wie in meinem Traum, nur, dass dort alles altmodischer gewirkt hatte. Einige der Gebäude glichen von der Form und Größe auffällig meiner Wahrnehmung aus Maries Augen. Obwohl im Laufe des Jahrhunderts natürlich einige neue, wesentlich funktionalere hinzugekommen waren, wie das überdimensionale Parkhaus zum Beispiel. Vor hundert Jahren hatte es hier bloß einen Droschken-Unterstellplatz gebraucht.
Ich erreichte die Pforte des Pflegeheims und schaute nach oben. Von einer Sekunde zur nächsten zog Gänsehaut über meinen Körper. Dort stand in großen Lettern „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ Der Spruch war nicht nur derselbe wie in meinem Traum, die Buchstaben glichen sich auch verdächtig. Ich befand mich vor der Schwachsinnigen- und Krüppelanstalt, modernisiert zwar und der heutigen Zeit angepasst, jedoch unverkennbar.
Eigentlich sollte mich das nicht weiter erschüttern, denn in Träumen schafft man es oft, bekannte Dinge zu kombinieren und in andere, bislang unvertraute Zusammenhänge zu bringen. Ich habe beispielsweise schon Leute miteinander verheiratet, die nicht einmal von der Existenz des anderen wussten. Ganz zu schweigen davon, dass bei mir nachts regelmäßig Mitmenschen sterben, um am nächsten Tag wieder putzmunter am Arbeitsplatz zu erscheinen.
Was mich an meiner neuen Art zu träumen vielmehr erschreckte, war das System, das sich dahinter zu verbergen schien. Ich meinte, mitten in eine sehr real wirkende Geschichte geraten zu sein, die sich mir Stück für Stück zu enthüllen begann.
Um meine Gänsehaut mit einer Portion Realismus zu glätten, sprach ich die diakonische Schwester an, die an der Pforte Dienst schob. Echte Diakonissen gibt es hier nur noch vereinzelt. Ich wollte von ihr wissen, ob dies schon immer ein Altenheim gewesen sei.
„Oh, nein“, erwiderte die Pförtnerin freundlich. „Bis zum zweiten Weltkrieg wurden hier geistig und körperlich behinderte Menschen betreut. Während des Nationalsozialismus hat man diese aber wie andernorts auch in spezielle Lager deportiert. Einige von den Diakonissen haben sich damals diesem Transport aus Protest angeschlossen. Im Krieg wurde das Haus dann als Lazarett für verwundete Soldaten umfunktioniert. Als Alten- und Pflegeheim wird es erst seit knapp fünfzig Jahren genutzt.“
Ich versuchte interessiert zu nicken, während mein Gehirn nach einer plausiblen Erklärung suchte, woher ich dies gewusst haben konnte.
„Anlässlich des 150- jährigen Jubiläums unserer Diakonissenanstalt wurde eine Festschrift mit alten Bildern herausgebracht. Da ist eine Fotografie drin, die das Heim im ursprünglichen Zustand zeigt. Ich habe einige Exemplare hier. Möchten Sie eins?“
„Gern.“
Die Schwester reichte mir den Prospekt über den modernen Empfangstresen, der sogar einen Computer beherbergte und schlug die entsprechende Seite gleich auf.
Es war das Haus aus meinem Traum. Und nicht genug, in geschwungenem Bogen stand über dem bekannten Bibelspruch: Schwachsinnigen- und Krüppelanstalt. Außerdem befanden sich ein paar Diakonissen in ordentlicher Aufstellung neben dem Eingang und ich hätte schwören können, dass eine davon Stationsschwester Inge und die dritte von links oben Schwester Johanna war.
Mein Gehirn kam zu dem Ergebnis, dass ich diesen Prospekt kennen musste, obwohl ich mich nicht mehr daran erinnern konnte. Eventuell hatte meine Oma ihn mir einmal gezeigt oder er war im Pflegeheim rumgelegen. Doch wie hatte ich es geschafft, mir alles derart genau einzuprägen, dass ich Monate später detailliert davon träumen konnte?
Meine wirren Gedanken erst einmal von mir schüttelnd, begab ich mich ins alte, ehrwürdige Treppenhaus. Es strahlt Behaglichkeit aus, die meiner Meinung nach von dem warmen Holz der Stufen und dem geschwungenen Geländer stammten. Im Gegensatz zu meinem Traum roch es dort jetzt angenehm nach Bohnerwachs und einem blumigen Reinigungsmittel. Die ausgetretenen Stufen glänzten honigfarben. Sie und der Handlauf wirkten, als wären sie sorgsam restauriert worden. Nur die seitlichen Streben sahen nach originaler, dunklerer Patina aus und wiesen an manchen Stellen tiefe Einkerbungen in den Schnitzereien auf. Ich strich vorsichtig mit der Hand darüber und überlegte, ob meine Traum-Marie wohl einmal am selben Platz gestanden haben mochte?
Mittlerweile ist nebendran ein behindertengerechter Fahrstuhl eingebaut worden, den die meisten Besucher vorzugsweise nutzen. Ich stieg jedoch, wie Marie, Stufe für Stufe in den zweiten Stock.
Dort erinnerte nichts mehr an früher. Die knarzenden Holzdielen waren einem pflegeleichten Bodenbelag gewichen und selbst die Raumaufteilung wirkte verändert. Durch die sich automatisch öffnende Schiebetür betrat ich den hellen Aufenthaltsbereich.
Oma befand sich heute in keiner guten Verfassung. Sie steuerte in einem ziemlich abenteuerlichen Outfit auf mich zu. Es bestand aus einer geblümten, rosa Bluse kombiniert mit einem roten knielangen Rock im Schottenmuster und grünen Filzpantoffeln. Zusätzlich hatte sie sich neonfarbene Haarspangen mit Schmetterlingsdekor ins dauergewellte graue Haar gesteckt. Klein und etwas pummelig wie sie war, ähnelte sie in dieser Aufmachung eher einer aufmüpfigen Gartenzwergin als einer betagten Seniorin.
Im Eilschritt durchquerte sie den Raum, so dass ich Mühe hatte, Schritt mit ihr zu halten. Sie fürchtete sich offenbar vor etwas. „Du musst aufpassen, Marie“, warnte sie mich und drehte sich die ganze Zeit um, als würde jemand auf uns lauern.
Ich hieß also erneut Marie, zumindest für den Moment. Wieso wählte meine Großmutter ausgerechnet diesen Namen? Vielleicht konnte ich das herausbekommen.
„Das mache ich“, versuchte ich sie erst mal zu beruhigen. Das Pflegepersonal hat mir erklärt, dass man demente Menschen am besten in ihrer Welt belässt und nicht versucht, sie für die Realität zu gewinnen. Einem Patienten beispielsweise zu erklären, dass seine geliebte Mutter seit einem halben Jahrhundert tot ist, hätte denjenigen mit Sicherheit in eine Krise gestürzt.
„Dein Onkel und deine Tante sind keine guten Menschen“, flüsterte Oma mir ins Ohr und blickte immer noch höchst besorgt drein.
Leider besaß ich keinen blassen Schimmer, ob ich für sie weiterhin Marie war oder mich wundersamer Weise in Enkeltochter Ronja zurück verwandelt hatte. Im letzteren Fall hätte sie gerade ihre eigene Tochter und den Schwiegersohn diffamiert. Falls erstere gemeint wären, konnte ich dies, dank meines Traumes von neulich, sogar nachvollziehen. Weder Onkel Konrad noch Tante Klara hatten sympathisch gewirkt. Zu etwas waren meine nächtlichen Ausflüge also gut. Ich schaffte es, besser bei den konfusen Äußerungen meiner Oma mitzuhalten.
Auf einmal kam mir eine Idee. Unter Umständen redeten wir ja von derselben Marie. Falls diese eine real existierende, wenn mittlerweile auch historische Person war, konnte mir meine Großmutter eventuell Auskünfte über sie geben. Verrückte Antworten auf verrückte Träume. Das dürfte ganz gut zusammenpassen. Ich musste meine Fragen nur sinnvoll verpacken. In mir begann detektivischer Spürsinn zu erwachen. „Weißt du zufällig etwas von Sophie?“, stieg ich betont harmlos ein.
„Sie ist tot. Das solltest du doch wissen. Du hast sie schließlich selbst im Bett gefunden“, kam es prompt zurück. Dabei funkelte sie mich entrüstet an.
Weil meine Großmutter seit langem keine Rücksicht mehr auf Jahreszahlen nimmt und theoretisch auch einen Spontantrip in die Gegenwart gemacht haben könnte, wusste ich leider nicht viel mehr. „Und