Traum-Zeit. Josie Hallbach. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Josie Hallbach
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754183755
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      Zu meiner Verblüffung teilte sich die Kleine jedoch mit, durch Gesten, Zuckungen, Blinzeln und ganz unterschiedliche Laute.

      „Das ist jammerschade“, antwortete Marie und konnte diese Sprache wohl ohne weiteres verstehen.

      In diesem Augenblick betrat eine junge Pflegekraft mit einem vollbeladenen Tablett das Krankenzimmer. Ihr rundes Gesicht strahlte wie ein Vollmond unter dem schief sitzenden, weißen Häubchen hervor und auf der sommersprossigen Nase saß eine winzige Nickelbrille. Auch der Rest von ihr bot wenig Ecken und Kanten. Ich fand sie auf Anhieb sympathisch. „Heute stehen Erbsen und Kartoffelpüree auf dem Mittagstisch. Eine deiner Leibspeisen, Sophie“, berichtete sie so begeistert, als hätte diese gerade einen Sechser im Lotto gewonnen.

      „Du bist ja doch da, Johanna“, meinte Marie daraufhin verwundert. „Meine Schwester hat steif und fest behauptet, du hättest heute frei.“

      „Das habe ich auch fast. Der Zug fährt in zwei Stunden. Mein ältester Bruder vermählt sich morgen.“

      „Oh, das freut mich.“

      „Ich freue mich auch. Nur muss ich bis dahin eine akzeptable Frisur gefunden haben. So kann ich mich auf der Feier keinesfalls blicken lassen.“ Sie strich, nachdem sie das Tablett auf Sophies Nachttisch abgestellt hatte, missmutig durch ihr feines Haar, das sich offenbar ungern von einer Haube bändigen ließ. „Ist es nicht schlimm genug, rothaarig zu sein? Ständig hängen Strähnen herab. Schwester Hulda von der Frauenstation hat mich heute Morgen deswegen sogar gerügt. Und Schwester Inge behauptet immer, sie hätte noch nie eine so schlampig aussehende Schülerin gehabt.“ Seufzend gab sie den Versuch auf, ihren kupferfarbenen Flaum wieder geordnet unter die Kopfbedeckung zu bringen.

      „Unsinn. Ich finde deine Haare hübsch“, tröstete sie Marie. „Sei froh, dass du keine Naturlocken hast. Gestern sind mir bei dem Versuch die verfilzten Stellen aus meinem Zopf herauszubekommen zwei Zinken vom Kamm abgebrochen.“

      „Man kriegt im Leben halt selten das, was man sich wünscht. Davon können die meisten hier ein Lied singen.“ Schwester Johanna ließ ihren Blick mitleidig einmal durchs Zimmer schweifen. „Nun muss ich aber weiter, sonst bringe ich meine Arbeiten nicht mehr zuwege. Bis Montag.“

      „Du kannst Schwester Inge ausrichten, dass ich nachher ein paar eurer Patientinnen mit nach draußen in den Park nehme und ihnen aus Sophies Kinderbibel vorlese.“

      „Famos. Wir sind heute ohnehin schlecht aufgestellt. Sie wird sehr erleichtert sein“, verabschiedete sich die junge Schwester und winkte uns herzlich zu.

      Kurz darauf erschien eine alte Diakonisse mit einem weiteren Essenstablett und machte sich dran, die beiden anderen Frauen, die sich mit Sophie das Zimmer teilten, zu füttern. Die zwei lagen apathisch da und gaben nur ab und zu lallende Töne oder ein Stöhnen von sich. Das Haar hatte man ihnen kurzgeschoren und sie trugen leinene Kittel als Kleidung.

      Nachdem Marie ihre Schwester ebenfalls gefüttert hatte, bewegte und massierte sie deren Gliedmaßen durch. Dies tat sie in meinen Augen äußerst geschickt.

      Zum Schluss wurde Sophie gewickelt. „Ich weiß, dass du lieber auf den Nachtstuhl sitzen möchtest, aber es geht leider nicht. Dafür fehlt das Personal.“

      Das Mädchen malte mit ungelenker Hand Zeichen in die Luft und stieß einige Laute aus, bei denen selbst ich als Laie merkte, dass sie keinesfalls lustig klangen.

      „Ja, ich auch“, antwortete Marie. „Doch wir müssen dankbar sein, dass Onkel Konrad dieses Heim für dich bezahlt und ich jeden Mittag zu dir kommen darf. Wenn ich eine Möglichkeit finde, werde ich dafür sorgen, dass du wieder bei mir wohnen kannst. Das verspreche ich. In Ordnung?“

      Sophie nickte zwar, aber in ihren Augen schimmerte es feucht.

      Eine halbe Stunde später brachte Marie ihre Schwester nach draußen. Sie hatte sie zuerst huckepack die Treppe hinuntergetragen, im Schlepptau weitere agile Behinderte, die wie Fohlen um sie herumsprangen oder an ihrem Kleid zerrten. Ich wunderte mich, wie eine schmächtige Frau gleichzeitig so stark sein konnte. Es kostete sie scheinbar kaum Anstrengung, ihre menschliche Last in den altmodischen Rollstuhl mit hölzernen Rädern zu hieven und das sperrige Gefährt über die geschotterten Wege zu schieben.

      Nach wenigen Metern gelangten wir zu einer Parkbank. Dort ließ man sich nieder, die Behinderten teilweise im kurzgemähten Gras sitzend. Marie las nun aus einer antiquarisch anmutenden Kinderbibel vor. Wiederum konnte ich die Schrift schwer entziffern, doch die Geschichte kannte ich. Sie handelte vom barmherzigen Samariter.

      Zwei pomadisierte Herren in Anzügen und weißen Kitteln, vermutlich Ärzte, liefen an der Gruppe vorbei. Der eine beobachtete meine Doppelgängerin durch sein Monokel genauso unverhohlen wie es die Leute auf der Straße getan hatten. Marie tat jedoch, als bemerke sie dies nicht.

      Sophie war mittlerweile auf ihrem Schoß platziert. Die übrigen Patientinnen wurden immer wieder am Arm oder Kopf berührt, persönlich mit Namen angesprochen oder bekamen geduldig erklärt, was sie wissen wollten.

      Mich faszinierte, wie liebevoll, klug und ohne Vorbehalte Marie mit diesen fremdartigen Menschen umging. Obwohl ich selbst kaum etwas verstand, merkte ich, dass sie aus der Vielzahl von wirren, verwaschenen Äußerungen Sinn ableiten und mit jeder einzelnen Patientin auf der für sie passenden Ebene kommunizieren konnte.

      Um drei Uhr mit dem Schlag der Kirchturmglocke endete die Vorlesestunde. Marie lieferte ihre Patiententruppe wieder auf Station ab. Beim Abschied weinte Sophie.

      Im Haus der Verwandten wartete weitere Arbeit auf uns, die erst mit dem Anrichten des Abendessens und dem Aufräumen der Küche endete. Um 21 Uhr durfte Marie erschöpft Feierabend machen.

      Josefine hatte sich währenddessen mit Freundinnen vergnügt und gelangweilt am Klavier falsche Töne produzierend die Stunden totgeschlagen. Nun plauderten Mutter und Tochter im warmen Salon und besaßen offensichtlich kein schlechtes Gewissen, die junge Verwandte derart hart für sich schuften zu lassen.

      Im Herzen die soziale Ungerechtigkeit empfindend, kehrte ich mit Marie in ihre kalte, spartanische Dachkammer zurück. Ich kam mir schäbig vor, wegen meiner bequemen Lebensart, die aus einem technisierten Haushalt, Fertigprodukten und meinem vollklimatisierten Arbeitsplatz samt dem entsprechenden Einkommen bestand, das mir den Luxus der Eigenständigkeit ermöglichte.

      Wir schliefen gemeinsam ein, nur durfte ich im Gegensatz zu Marie im Jahr 2016 erwachen.

      Kapitel 6:

      Am nächsten Morgen fuhr ich zum ersten Mal seit vier Jahren mit dem Rad zur Arbeit. Dies tat ich aus Solidarität zu Marie. Ich schämte mich anschließend für meinen ergonomisch geformten Bürostuhl, den höhenverstellbaren Tisch, das gute Kantine-Essen, für das ich keinen Finger krummzumachen brauchte und all die anderen Vergünstigungen und Annehmlichkeiten meiner Zeit, die ich bis gestern nie hinterfragt hatte.

      Ich grüßte die Putzfrauen mit einem warmen Lächeln, als sie gegen Ende meiner Arbeitszeit ihren Dienst antraten und kniete in Gedanken an die vergangene Nacht mit schmerzenden Knien und gebeugtem Rücken auf den Boden, um das Parkett meines kleinen Wohn-Esszimmers auf Hochglanz zu polieren.

      Auch zur Hausaufgabenhilfe in der Flüchtlingsunterkunft begab ich mit anderem Bewusstsein. Ich hatte den Job vor einem viertel Jahr wegen meiner minder ausgeprägten Fähigkeit, „nein“ zu sagen, übernommen und trat seither einmal wöchentlich mit mäßiger Begeisterung diesen sozialen Dienst an. An diesem Abend versuchte ich mein Bestes zu geben.

      Manchmal besitze ich jedoch den Hang, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Bevor ich aus lauter schlechtem Gewissen einen Zweitjob im Dritte Welt Laden annahm, beschloss ich meine Oma zu besuchen.

      Jede Fahrt mit meinem uralten, von meiner Mutter geerbten Opel gleicht einem Abenteuer und die siebzig Kilometer zum Pflegeheim stellen ein stetes Risiko dar. Der Mann von der TÜV-Prüfstelle hatte wohl Mitleid; anders kann ich es mir nicht erklären, warum ich vor einem halben Jahr noch einmal