„Hieß die Familie zufällig Langholz?“
„Deine Oma scheint dich ja genauestens informiert zu haben. Wenn ihr Gedächtnis nur in anderen Dingen so gut funktionieren würde. Ihr Sparbuch suchen wir bis heute.“ Tante Sabine seufzte leidgeprüft. „Aber immerhin haben wir das Bild gefunden, das bei ihr jahrelang im Schlafzimmer hing. Sie hat uns alle des Diebstahls bezichtigt. Helmut entdeckte es hinter dem Schuhregal, als wir das Haus räumten.“
„Da wird sich Oma aber freuen.“
„Sicher, bloß weiß ich nicht, ob es sinnvoll ist, es ihr noch mal zu geben. Sie bringt es fertig und versteckt es gleich wieder. Aber ein Gutes hat es: Dadurch konnte ich dir detailliert Auskunft geben. Mutter hat nämlich freundlicher Weise die Namen der Personen und die wichtigsten Daten auf der Rückseite vermerkt, vermutlich aus Angst, sie zu vergessen.“
Mir stockte der Atem. „Du hast dieses Bild gerade vor dir?“
„Klar. Denkst du, ich habe unseren Familienstammbaum im Kopf? Es befindet sich bei Mutters sonstigen Sachen. Alles, was an verwertbaren Dingen auftaucht und nicht ohnehin bei ihr im Pflegeheim gelandet ist, kommt zu mir ins Gästezimmer. Sogar ein paar ihrer ehemaligen Möbelstücke stehen dort rum. Wenn du zufällig Bedarf an einer wurmstichigen Kommode hast, könnte ich dir behilflich sein.“
„Unter Umständen hätte ich diesen tatsächlich.“ Bei Dingen, für die andere keine Verwendung mehr finden, erwacht in mir immer sofort Ehrgeiz, neue Nutzungsmöglichkeiten zu kreieren. Vielleicht liegt es an meinen schwäbischen Spargenen, in Kombination mit meiner Unfähigkeit, Sachen wegzuwerfen. Oder dass jahrelang, als Mutter nicht mehr arbeiten konnte und sich aus Stolz weigerte, Almosen anzunehmen, es in unserem Leben finanziell eng zugegangen war… Obwohl ich inzwischen ein gutes Einkommen habe, kann ich schwer von diesem Verhaltensmuster lassen. Das wissen die Leute aus meiner Umgebung und fragen nach, bevor sie Möbel auf den Sperrmüll und Kleidungsstücke in den Container geben. Entsprechend sieht es in meiner Wohnung aus und genauso zusammengewürfelt kleide ich mich.
„Wer ist auf dem Foto denn drauf?“
„Im Prinzip alle, von denen wir eben geredet haben, inklusive Uropas Tochter aus erster Ehe. Keine Ahnung, wie sie hieß. Ihr Name ist so stark verwischt, dass ich ihn nicht entziffern kann. Doch ich meine mich zu erinnern, dass sie später Diakonisse wurde. Das Bild muss gemacht worden sein, bevor Uropa in den Krieg zog. Übrigens steht fest, dass du deiner Ur-Uroma erstaunlich ähnlich siehst.“
Mein Mund fühlte sich plötzlich trocken an. „Könntest du das Bild und die Rückseite abfotografieren und mir per WhatsApp schicken?“
Meine Tante ist diesbezüglich modern ausgestattet, vermutlich sogar auf einem neueren Stand als ich. Das kommt davon, weil ein Teil ihrer Töchter fast nur noch auf diesem Wege mit ihr kommuniziert.
„Klar, mach ich.“
Fünf Minuten später brummte mein Handy. Ich öffnete mit zittrigen Händen die Nachricht und wurde nicht enttäuscht. Mir schaute mein Ebenbild vom Spiegel entgegen, samt ihrem Ehemann, Doktor Langholz. Er stand, sie mehr als einen Kopf überragend, neben ihr. Auf dem Arm hielt er ein kleines dunkelhäutiges Mädchen mit wildem lockigem Haar, das seine dicken Ärmchen vertrauensvoll um seinen Hals geschlungen hatte. An seiner anderen Seite befand sich eine ernst dreinblickende Jugendliche mit blonden langen Zöpfen, vermutlich die besagte Tochter aus erster Ehe. Marie, deren vorgewölbter Bauch eine weitere Geburt ankündigte, hatte ihre Hand auf einen schelmisch grinsenden dunkelhaarigen Jungen mit Brille gelegt. Die Sehhilfe wirkte mittlerweile fast wieder modern und hätte aus dem aktuellen Optikerkatalog stammen können. Zwei strohblonde Kinder, bei denen die Verwandtschaft zum Vater schwer zu leugnen war, ein Junge und ein Mädchen, vermutlich Hanna und Daniel, tummelten sich zu Füßen des Ehepaares.
Das Foto kam für die damalige Zeit, in der man Menschen am liebsten geordnet in Reih und Glied positionierte, ausgesprochen lebendig daher. Marie blickte jedoch im Vergleich zu den anderen ziemlich melancholisch drein, wobei das dem Anlass geschuldet sein dürfte. Die Vorstellung, dass Samuel ein Jahr später bereits tot war und auch keine der übrigen Personen mehr lebte, tat mir weh.
Kurz vor dem Einschlafen traf mich dann noch eine weitere Erkenntnis. Etwas, beziehungsweise jemand fehlte auf dem Gruppen-Porträt. Warum war mir das nicht gleich aufgefallen? Niemals hätte man diese Person vergessen oder mit Absicht ausgegrenzt. Sophies Abwesenheit konnte folglich nur eines bedeuten…
Kapitel 9:
Es wunderte mich nicht im Geringsten, dass ich in der nächsten Nacht erneut auf Zeitreise ging. Schließlich hatte ich das Familienbild auf meinem Handy so oft angeschaut, dass mein Display vom ewigen Zoomen demnächst Abnutzungserscheinungen zeigen musste.
Ich fand mich, beziehungsweise Marie mit Onkel Konrad am Tisch beim Abendbrot wieder. Das Esszimmer sah genauso steif und unpersönlich aus wie beim letzten Mal.
Von Tante Klara und Josefine war nichts zu sehen, doch ich meinte im Verlauf des Gespräches herauszuhören, dass die Cousine inzwischen geheiratet hatte und die beiden Frauen einen netten Abend miteinander verbrachten und nebenbei deren neues, häusliches Umfeld aufzuhübschen gedachte. Wahrscheinlich fehlten ein paar gehäkelte Spitzendeckchen oder unpraktische Staubfänger für die Vitrine, musste ich boshaft denken.
Der Onkel schien ausnahmsweise bester Stimmung zu sein und hatte beim Essen kräftig dem Rotwein zugesprochen. „Wie alt bist du letzten Monat geworden? 18 nicht wahr?“, erkundigte er sich plötzlich mehr oder weniger zusammenhangslos.
Marie nickte vorsichtig. Ich nahm diese Information dagegen erstaunt zur Kenntnis, weil ich meine Vorfahrin für deutlich älter geschätzt hätte, als ich sie im Spiegel erblickte. Auf dem Foto, das mir Tante Sabine zugeschickt hatte, war sie es als Mutter von viereinhalb Kindern dann ja auch.
„Somit bist du im heiratsfähigen Alter. Wir sollten uns über deine Zukunft Gedanken machen. Vielleicht hast du ja bereits einen heimlichen Verehrer?“
„Nein. Außerdem möchte ich Diakonisse werden“, packte Marie die Gelegenheit beim Schopf und brachte mutig ihren Berufswunsch vor.
„Im Ernst?“ Man merkte dem Onkel die Verblüffung an. Dann lachte er schallend, als hätte sie einen Witz gemacht. „Du meine Güte. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Eine dunkelhäutige Diakonisse, wo gibt es denn so was? Ich denke, wir finden eine bessere Verwendung für dich.“ Seine Hand legte sich unvermittelt auf ihren Arm.
Ich spürte Maries Abneigung überdeutlich. Sie wäre am liebsten aufgesprungen und nach draußen gerannt.
„Was hältst du davon, wenn du mich in nächster Zeit vermehrt in der Firma unterstützt?“, schlug er mit schmeichelnder Stimme vor. „Ich kann eine tüchtige, sprachlich begabte Hilfskraft wie dich gut gebrauchen.“ Seine Hand wanderte noch ein Stück weiter nach oben.
In mir begann eine Warnglocke zu läuten.
„Ich möchte lieber mit Krüppeln und Schwachsinnigen arbeiten“, beharrte Marie und ignorierte die Hand so gut sie konnte.
„Das liegt daran, weil du es nicht besser kennst. Wenn du dich in Zukunft etwas entgegenkommender zeigst, finden wir bestimmt eine befriedigende Lösung. Es muss nicht zu deinem Schaden sein. Du wirst dich wundern, wie großzügig ich sein kann. Deine Tante braucht von unserem Abkommen nichts zu wissen.“ Mit einem Mal grabschten die Finger direkt nach ihrer Brust.
Marie schnellte mit einem entsetzten Aufschrei hoch, wurde aber vom Onkel hart gegen den Esszimmertisch gedrängt.
„Jetzt tu nicht so prüde, Mädchen. Du willst es doch in Wirklichkeit ebenso. Deine Mutter hatte schließlich auch nichts dagegen, sich für Geld und eine gesellschaftliche Stellung einem älteren Mann anzubiedern.“
Ich geriet äquivalent zu Marie in Panik. Diese versuchte verzweifelt, die aufdringlichen Finger abzuschütteln und sich von dem zum Unhold mutierten Onkel freizumachen. Keuchend vor Gier und wie