Melanie nickte. „Und wieso Nacht?“
„Weil sich Cataara bloß in die Nacht ihrer Kräfte bedienen konnte.“
Melanie kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Und wie findet ihr diese Naimet?“
„Meistens finden sie uns, weil es viele Eingänge gibt. Automatisch fühlen sie sich bei Vollmond zu diesen Orte hingezogen und dann geht einer von uns schauen, ob wer gekommen ist.“
„Aber Vollmond ist erst in zwei Tagen“, wandte Melanie ein. Automatisch nahm sie an, dass sie auch eine Naimet war – sofern sie Daniel Glauben schenken konnte.
Erstaunt schaute Daniel sie an. „Stimmt, ich ging auch nicht deshalb schauen. Ehrlich gesagt, war es rein intuitiv.“
„Ach so.“ Melanie spielte an ihrer Jacke herum, die sie sich über den Arm gelegt hatte. Bevor sie sich überlegen konnte, was sie noch sagen sollte, ergriff Daniel wieder das Wort.
„Cataara hat übrigens eine Regel erschaffen, die ziemlich wichtig ist“, begann er und betrachtete Melanie aufmerksam. „Man darf niemanden ungestraft töten, wenn es nicht absolut nötig ist.“
Melanie lachte verhalten. „Das ist auch hier eine Regel“, bemerkte sie trocken. Sogar strenger – auch wenn es ‚nötig‘ war, durfte man niemanden umbringen!
Daniel grinste. „Yo sé. Aber hier kommst du ins Gefängnis. Wenn man im Land der Nacht einfach so zum Spaß jemanden tötet, ohne dass man beispielsweise selbst in Gefahr schwebt, dann kriegt man so eine Mal irgendwo an die Körper, wie eine Art magische Tätowierung. Na ja, und das ist so verpönt, dass das keiner möchte. Man hat keine solchen Tätowierungen, das ist einfach so. Außerdem, wenn das ein Polizist sieht, kommt man nicht ganz so einfach weg – und da ist Gefängnis noch viel besser.“ Daniel zuckte mit den Schultern.
Melanie verstand zwar nicht so genau, wie sich dieses System so sehr von den Gesetzen in jedem anderen normalen Land unterschied, aber sie vermutete, dass so eine Mördermarkierung tatsächlich sehr schlecht ankam, wenn Cataara höchstpersönlich diese Regelung eingeführt hatte. Melanie kniff die Augen zusammen und vertrieb den Gedanken an Morde und unrealistische Sagen. Stattdessen sah sie sich interessiert um.
Sie waren mitten in der Stadt angekommen, wo im Moment wenige Leute unterwegs waren. Außer, dass nur selten mal ein Auto in eine Straße einbog und die Leute eine ungewöhnliche Ausstrahlung hatten, schien sich das Land der Nacht kaum von anderen Städten zu unterscheiden. Neugierig sah sie zu Daniel hinauf.
„Wohin gehen wir?“
Daniel deutete nach links auf ein weißes, längliches Haus. Daneben standen noch andere Häuser, alle groß und schlicht gehalten. Es sah aus, als ob sie alle zueinander gehörten, und vereinzelt sah man Teenager und Jugendliche, die aus den Gebäuden spazierten. „Hier rein, erst mal.“ „Okay ... Und nachher?“ Passiv rieb sie sich die schmerzende Schulter.
„Dann kannst du entscheiden, ob du hierbleiben willst oder wieder nach Hause gehst, als sei nichts geschehen.“
Melanie holte tief Luft. Das war ihr eindeutig zu viel auf einmal. Sie war noch nie gut darin gewesen, große Entscheidungen zu treffen. Zum Glück nahm Daniel sie wieder vorsichtig am Arm und führte sie in das längliche Haus hinein, dessen Tür offen war. Nun standen sie in einem Gang, von dem mehrere Türen abzweigten. Daniel öffnete die letzte Tür zu ihrer Rechten und führte sie in eine Art Krankenstation. Mehrere Erste-HilfeKästen standen herum und der Raum war mit Liegen und Stühlen möbliert. „Setz dich doch“, ertönte Daniels tiefe Stimme neben ihr.
Etwas unsicher ließ sie sich auf einem Stuhl nieder und nahm die Jacke auf den Schoß. Der Vorteil an schwarzen Jacken war, dass Melanie sie mithilfe ihrer Schattenkraft reparieren konnte. Sie legte sie in den Schatten und ließ den Stoff zusammenwachsen. In dem Moment kam Daniel zurück, der einen der Erste-Hilfe-Kästen dabei hatte. Stirnrunzelnd zeigte er auf ihre Jacke.
„Hast du das gerade geflickt?“
„Ja, mit schwarzen Dingen kann ich das“, antwortete Melanie und hoffte, dass er sich das mit dieser Cataara-Kraft erklärte. Er schien nicht allzu verwundert zu sein.
„Cool.“ Er öffnete den Koffer, holte eine längliche Flasche heraus und meinte: „Könnte ein bisschen brennen.“
„Nicht so schlimm.“
Er träufelte die durchsichtige Flüssigkeit auf ihren Oberarm, vom Geruch her tippte Melanie auf ein Desinfektionsmittel. Sobald die Tropfen sich mit dem Blut vermischten, begann es zu brennen und Melanie biss die Zähne zusammen, damit ihr kein Laut über die Lippen kam. Sie sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als Daniel mit einem braunen, watteartigen Lappen das Blut der Wunde wegwischte. Doch er schien zu wissen, was er tat, und seine Bewegungen waren kontrolliert und sanft. Er holte Verbandszeug hervor und umwickelte die Verletzung vorsichtig. Dabei kam es Melanie so vor, als ob er ein wenig länger als nötig ihre Haut berührte.
„Danke“, sagte sie schließlich. Das ging tatsächlich schneller in dieser mysteriösen Stadt, als wenn sie erst noch nach Hause gegangen wäre, um sich zu versorgen. Schon jetzt ließ der Schmerz ein wenig nach.
„Kein Problem.“ Während er die Sachen verstaute, fügte er hinzu: „Möchtest du jetzt hierbleiben oder nicht?“
Melanie wusste nicht recht, was sie antworten sollte. „Was meinst du mit hier? Einfach hier in der Stadt ...?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, hier bist du nicht irgendwo, sondern in einer Art ... Internat. Wir nennen es Camp Cataara. Es ist wie eine normale Schule, nur, dass man als Schwerpunktfach Kämpfen und Hexerei erlernt. Man könnte auch wieder aus dem Camp ausziehen, aber das hat bisher kaum jemand gemacht.“ Kämpfen ... Sehr verlockend.
„Es ist zwar cool, aber wieso kämpft ihr?“
Daniel lächelte. „Es gibt mehrere solche Camps, manchmal haben wir Meinungsverschiedenheiten. Zum Beispiel wollten die Blacks schon immer das Tigermädchen. Nur leider haben wir gar keine.“
Melanie nickte. „Verstehe ...“, schwindelte sie und dachte nach. Sie könnte einfach hier zur Schule gehen, ihren Eltern das Ganze erklären und müsste nie wieder diese blöden Kids aus ihrer Stadt sehen. Sie würde ihre Eltern besuchen können, ganz bestimmt. Sie würde das Kämpfen lernen, vielleicht endlich erfahren, wieso sie diese seltsamen Gaben besaß, und würde an einem Ort aufgehoben sein, an dem es nicht total gestört war, wenn man nachts sehen konnte.
Sie lächelte Daniel an. „Naja, wieso eigentlich nicht?“, meinte sie. „Aber wie kann man das dem Staat erklären …?“
Daniel blickte sie halb erstaunt, halb erfreut an. Wahrscheinlich hatte er nicht gedacht, dass sie so schnell zusagen würde. „Du kannst sagen, du seist im Süden der Insel in eine Privatinternat aufgenommen worden. Das sagen viele, die hier einziehen. Der Staat weiß im Übrigen so in etwa darüber Bescheid.“
„Okay. Apropos einziehen: Ich müsste meine Sachen noch holen, oder?“ Wenn sie schon einzog, wollte sie das gleich erledigen. Sie hatte den Sommer über sowieso nichts Besseres zu tun.
Daniel lachte. „Ja, ich kann dir helfen, wenn du willst. Aber Schrank und Bett sind inbegriffen.“