Tigermädchen. Delia Muñoz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Delia Muñoz
Издательство: Bookwire
Серия: Tigermädchen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748557203
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und flüsterte zurück: „Es war um vier Uhr morgens.“

      Der Junge blickte ein wenig verwirrt drein.

      Melanie drehte sich wieder nach vorne, weil sie schon den Blick der Lehrerin auf sich spürte. Wie sie die Schule und diese Leute hasste. Konnten diese Idioten sie nicht einfach ignorieren? Das vier Uhr morgens war zwar in diesem Fall eine etwas lockere Wahrheit gewesen, aber an manchen Tagen traf das tatsächlich zu.

      Die Lehrerin schrieb in großen Lettern den Begriff „Die dunkle Retterin“ an die Tafel. Lächelnd drehte sie sich zu den Schülern um, die ihr mit offenen Mündern entgegenblickten.

       Das hatte sie mit „aktuell“ gemeint?

      „Was kennt ihr noch für Begriffe für dieses Mädchen?“ Ihr Blick glitt durch die Brille über die Schüler und blieb schlussendlich an Melanie haften, obwohl diese sich große Mühe gab, ihrem Blick auszuweichen. „Melanie?“

      Melanie sah erschrocken hoch. „Äh, das Mädchen in Schwarz“, antwortete sie zögernd und spielte nervös mit ihren Armbändern herum, die Gedanken bei der TierWoche und ihren Eltern.

      „Genau!“, sagte die Lehrerin erfreut, als habe Melanie gerade im Kopf eine ellenlange Gleichung gelöst. Eifrig schrieb sie es an die Tafel und Melanie sah wieder aus dem Fenster. Tatsächlich gab es schlimmere Themen als dieses, aber sie wollte im Moment nur noch aus dieser Schule raus und nie wieder zurückkehren. Sie bekam noch mit, wie ein Junge sagte, manchmal würde sie das Tier der Nacht genannt werden. Darauf reagierte die Lehrerin ebenso beschwingt wie bei Melanie. Wahrscheinlich dachte auch sie schon die ganze Zeit an die Ferien und konnte sich die Laune nicht verderben lassen. Geschichten zufolge fuhr sie jeden Sommer ans Meer, was Melanie überhaupt nicht verstehen konnte – ihr persönlich gefielen keine Strandferien, genauso wenig wie ihren Eltern.

      Als Melanie nach einer Weile wieder einen Blick auf die Tafel warf, realisierte sie, dass der Unterricht vorangeschritten war, auch wenn sie nichts davon mitbekommen hatte. An der Tafel standen nun mehrere Stichworte zum Verhalten des Mädchens in Schwarz und was für eine Person sie wohl war. Melanie presste genervt die Lippen aufeinander. Wieso war es denn so wichtig herauszufinden, wer dieses Mädchen war? Warum konnte die Menschheit kein Geheimnis geheim bleiben lassen? Ohne dass sie es richtig merkte, hatte sie die Hand gehoben.

      „Ja, Melanie? Was möchtest du dazu sagen?“ Der Blick der Lehrerin durchbohrte sie.

       Hören Sie auf, mit mir zu reden, als sei ich ein Kleinkind!

      „Ich habe eine Frage“, stellte sie klar und schaute stur nach vorne. „Wieso wollen wir jetzt herausfinden, wer sie ist? Warum ist das so wichtig?“

      Die Lehrerin schob verdutzt ihre Brille höher und einige aus der Klasse stöhnten übertrieben laut.

      „Was die immer für Fragen stellt“, murmelte der Junge hinter Melanie. „Nun ja, immerhin ist sie ja ein großes Thema in der Zeitung“, antwortete Melanies Klassenlehrerin pikiert und ein wenig aus dem Konzept gebracht. „Das ist doch ein lockeres Thema für den letzten

      Tag, findest du nicht?“

      Melanie verdrehte die Augen. Das war ja wohl keine ausschlaggebende Antwort gewesen.

      „Hm, findest du nicht?“, äffte eine Schülerin die Lehrerin nach und Melanie spürte den Blick des Mädchens im Rücken. Sie straffte die Schultern, setzte ein Lächeln auf und erwiderte an die Lehrerin gewandt: „Doch, das ist es.“

      Die Pausenglocke klingelte und erlöste Melanie aus ihrer ungemütlichen Situation. Erleichtert sprang sie auf, voller Vorfreude auf ein paar ungestörte Minuten für sich allein. Alle anderen stürmten aus dem Klassenzimmer, möglichst weit weg von der Lehrerin, und hinterließen ein Chaos aus Stühlen, Tischen und Stiften. Melanie, die lässig und froh über die Unterbrechung hinausschlenderte, bemerkte das Bein natürlich nicht, das ihr jemand stellte. Sie stolperte darüber und stützte sich gerade noch rechtzeitig an der Wand ab. Wütend knurrte sie den Jungen an und lief weiter, doch ihr Herz schlug ein wenig schneller. Dann hörte sie plötzlich eine Stimme wispern: „Mal sehen, wer ein blaues Auge kriegt.“

      Melanie wirbelte herum und wich reflexartig der Faust aus, die direkt auf ihr Gesicht zielte. Der Junge von vorhin wollte sich offenbar unbedingt prügeln. Melanie seufzte. Es wäre kein Problem, den Gang dunkel werden zu lassen, den Idioten k. o. zu schlagen und wegzugehen, doch leider wären die Lehrer nicht erfreut darüber. Und sie konnte von Glück reden, dass die Tussi bisher noch nicht gepetzt hatte. Also packte sie seinen Arm und verdrehte ihn auf seinem Rücken. Auch wenn das nicht viel besser als eine handfeste Prügelei war, war es wenigstens nicht so einfach nachweisbar wie eine Beule.

      „Hör mir zu“, zischte sie ihm ins Ohr. „Ich könnte dich nach der Schule grün und blau schlagen. Aber wenn du mich hier auch nur einmal anrührst, petze ich.“

      „Drohst du mir etwa?“, fragte der Junge scheinheilig.

      Melanies Magen verkrampfte sich. „Nein. Ich warne dich bloß vor.“

      Sie ließ ihren Blick durch den Gang schweifen, bis sie eine dunkle Nische hinter einem Spind gefunden hatte. Blitzschnell ließ sie den Jungen los und huschte in die Ecke. Sie spreizte die Finger und die Schatten wurden dunkler. Jetzt konnte sie niemand mehr sehen. In der Tat schaute sich der Junge verwundert und mit einem dämlichen Gesichtsausdruck um. Melanie zwang sich, nicht zu lachen. Dann entschied der Junge sich dafür, sich den Arm zu reiben und seinen Kumpels hinterherzurennen.

      Melanie atmete erleichtert aus.

      Der Tag wurde nicht besser und Melanie ersehnte das Ende der Schule mit jeder Sekunde mehr herbei. Mit einem Bleistift kritzelte sie gedankenverloren auf ihrem Blatt herum und blendete die blöden Sprüche aus, die ihre Mitschüler bei jeder Gelegenheit flüsterten, obwohl sie gewöhnlich Respekt vor der Klassenlehrerin hatten. Die Lehrerin zeigte ihnen nun doch eine Komödie, die eine der Tussen mitgenommen hatte; ein paar Schüler konnten sie dazu überreden, dass sie nun genug über die dunkle Retterin wussten. Da Komödien ganz und gar nicht Melanies Genre waren, hörte sie nur mit halbem Ohr zu.

      Da ertönte die erlösende Schulglocke. Noch nie hatte Melanie das scheußliche Klingeln als so erleichternd empfunden wie an diesem Tag. Sie sprang von ihrem Stuhl hoch, packte den Bleistift ein und warf das Bild in den Mülleimer. Ohne auf den „Ist das ein Tiger? Sieht aus wie ‘ne Katze“-Kommentar einzugehen, verabschiedete sich als erstes von der Lehrerin.

      „Ferien! Nie mehr an diese blöde Schule!“, versuchte sie, ihrem Gehirn begreiflich zu machen, dass es sich freuen sollte. Ohne es zu merken, war sie auf dem Schulhof angekommen und schritt zielstrebig auf den Ausgang zu. Die Sonne schien ihr warm ins Gesicht, wie um sie daran zu erinnern, dass nun endlich die ersehnten Ferien anstanden. An der Ausgangstür standen ein paar Mädchen, die sich mit Tränen in den Augen umarmten und Melanie nicht mal bemerkten, als sie sich an ihnen vorbeidrängte. Doch sie fühlte sich freier als je zuvor in den letzten vier Jahren. Nun konnte sie neu anfangen.

      Melanie schaute seufzend in den Kühlschrank. Außer einer halben Flasche Wasser, etwas Milch und Käse war nichts zu sehen. Damit kam sie nicht weit. Sie schloss die Tür wieder und machte sich auf die Suche nach dem Geld, das ihre Mutter ihr hingelegt hatte, damit sie in den Ferien einkaufen gehen konnte. Als sie es fand, steckte sie es in die hintere Hosentasche. Sie schnappte sich die Lederjacke von ihrem Bett, für den Fall, dass es kühl wurde, und joggte aus dem Haus.

      Nach 20 Minuten kam sie an zwei Abzweigungen, eine führte direkt in die Stadt und somit zum Lebensmittelgeschäft. Die andere war eine eher zwielichtige Straße, welche die meisten mieden. Kaum war sie in die erste Straße eingebogen, kam sie an einem Obdachlosen vorbei, der einen Stoffhut vor sich gelegt hatte und mit wachsamen Augen die Straße musterte. Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu und blieb einen Moment an seinen Augen hängen, die aus einem unerklärlichen Grund total faszinierend waren.

      „Ich würde nicht hier durchgehen“, sagte der Mann auf einmal.

      Melanie schaute ihn verwirrt an und deutete auf die Straße. „Du meinst hier?“

      Der