„Miststück!“
„Freut mich, hast du auch einen Nachnamen?“, antwortete die dunkle Retterin gekonnt.
„Wer bist du? Wie heißt du?“, wollte er wissen. Sein Atem stank nach Alkohol.
Das Mädchen in Schwarz grinste. „Du kannst mich „deinen Untergang“ nennen, wenn du willst.“ Sie überlegte kurz. „Oder so, wie es die Zeitung tut.“ Sie hob erwartungsvoll die Augenbrauen.
Der Mann knurrte. „Und wie heißt du wirklich?“
Das Mädchen zuckte die Schultern. Passiv registrierte sie, wie seine Hand zu seinem Gürtel glitt und er sie, um einen gleichgültigen Gesichtsausdruck bemüht, direkt anstarrte. Sie kickte ihm gegen das Kinn und er sackte ohnmächtig zusammen.
„Dummheit“, murmelte die dunkle Retterin fast schon amüsiert. Da kam ihr das junge Mädchen wieder in den Sinn. Rasch eilte sie zu der Ecke zwischen den zwei Häusern, wo sich das Mädchen versteckt hielt. Es zitterte am ganzen Körper und hatte die Arme um sich geschlungen. Mitfühlend lächelte das Mädchen in Schwarz die Kleine an und streckte ihr die Hand entgegen. Vorsichtig umfasste die Kleine die angebotene Hand und die dunkle Retterin zog sie hoch.
„Kommst du allein nach Hause?“, fragte das Mädchen in Schwarz.
Die Kleine nickte benommen und die dunkle Retterin bemerkte, wie sie sich die Handgelenke rieb; dort, wo die Fesseln gesessen hatten, waren rote Abdrücke zu sehen.
„D-danke“, stotterte das Mädchen, ehe es sich umdrehte und davonrannte.
Die dunkle Retterin blickte ihm nach und musste sich zusammenreißen, um ihm nicht hinterherzurennen und es in den Arm zu nehmen. Denn sie wusste genau, wie es war, vergewaltigt zu werden. Und dieses Mädchen erinnerte sie mehr als jedes andere an sich selbst. Stattdessen trat sie in den nächsten Schatten, verschmolz mit ihm und war verschwunden.
„Ein Miststück!“
„Blödes Gör!“
„Bloß ein Mädchen!“
„Pah! Ein fieses Stück!“
Ein Mann stellte die Bierflasche nachdrücklich auf den Tisch vor sich und rülpste. „Sie sieht aus wie ein junges, hübsches Mädchen. Doch das täuscht gewaltig! Sie haut dich so klein!“ Er drückte Daumen und Zeigefinger aufeinander und hielt den anderen die Hand vor die Nase.
Ein paar nickten zustimmend, doch einer schüttelte den Kopf. „Quatsch, sie kann doch nicht überall sein!“
Sein Nachbar lachte betrunken. „Ha! Dieses Weib ist schwarz wie die Nacht! Keine Ahnung, ob sie überhaupt ein Mensch ist.“
„Hast du sie noch nie getroffen?“, fragte der andere Nachbar des Zweifelnden.
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
Sein Sitznachbar lachte humorlos. „Na, dann sei mal froh, Junge, und bete.“
Der Mann gegenüber lehnte sich geheimnistuerisch nach vorne und den anderen schlug seine Bierfahne entgegen. „Bei Vollmond, da verwandelt sie sich in ein rabenschwarzes Tier!“, raunte er. Und keiner der Anwesenden lachte.
Auch die Zeitung hatte immer etwas zu berichten. Doch wer sie wirklich war, das wusste niemand. Man nannte sie bloß das Mädchen in Schwarz, die dunkle Retterin oder das Tier in der Nacht.
1 DAS LAND DER NACHT
Es war Nacht.
Melanie ließ ihren Blick über die Stadt zu ihren Füßen gleiten. Sie stand auf dem Balkon, die Uhr auf ihrem Schreibtisch zeigte drei Uhr nachts an. Obwohl sie nur vier Stunden geschlafen hatte, war sie hellwach. Denn sie brauchte nicht mehr Schlaf; das war etwas, was sie von den anderen Menschen unterschied.
Doch nicht nur das war anders an Melanie. Sie konnte in der Dunkelheit genauso gut sehen wie tagsüber. So beobachtete sie, wie ein Auto in die Straße einbog und wie der Mond am Nachthimmel langsam sank. Sie sah, wie Jugendliche in Gruppen durch die Straßen gingen und wie hier und da eine Katze vorbeihuschte. Der Wind ließ sie in ihrem Pyjama frösteln und wehte ihr um die Ohren. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe herum. Heute war ihr letzter Tag an der Schule, bevor die Sommerferien begannen und sie die Schule wechseln würde. Danach würde sie auf ein College gehen – das war hier üblich. Über den Schulwechsel war sie überhaupt nicht traurig, denn in ihrer Klasse war sie gelinde gesagt ziemlich unbeliebt gewesen. Aber heute fuhren auch ihre Eltern nach Island, wo sie die nächsten zwei Monate verbringen würden. Melanies Mutter war Journalistin, ihr Vater Fotograf. So waren sie gemeinsam Chefredakteure der Zeitung „TierWoche“, die sich vornehmlich mit Tierberichten ihre Beliebtheit sicherte. Jede Woche kam eine neue Ausgabe heraus, beispielsweise mit Berichten über einwöchige Beobachtungen des Verhaltens eines Tieres. Aber auch lustige Anekdoten, wie vor zwei Wochen, als ein Eichhörnchen in ein Haus „eingebrochen“ war und den Vorratsschrank ausgeräumt hatte, fanden sich darin. Die Besitzer waren ganz durch den Wind gewesen und hatten Anzeige erstattet - gegen ein Eichhörnchen. Solche Dinge landeten dann in der TierWoche
Die einzige Ausnahme, die ihre Eltern machten, war, dass sie zuzüglich zu den Tieren noch über die dunkle Retterin schrieben. Sie sei so mutig, sagten sie, dass sie einfach darüber berichten müssten. Außerdem wurde sie der Zeitung bei Vollmond ja gerecht, wenn sie sich angeblich in ein Tier verwandelte.
Melanie seufzte. In Island wollten sie über Pferde schreiben. Ein großer Pferdezüchter hatte ihnen für knapp zwei Monate erlaubt, bei ihm zu wohnen. Doch Melanie durfte nicht mit, sie blieb allein zu Hause, da sie sich weigerte, zu ihrer altmodischen Tante zu gehen. Sie warf einen Blick in ihr Zimmer. Die Uhr zeigte 04:30 Uhr an, Melanie war nun schon seit einer Weile auf dem Balkon und beobachtete die kühle Nacht. Jetzt schlich sie, so leise es ihre Pantoffeln erlaubten, in ihr Zimmer zurück und erledigte ihre Hausaufgaben, bis der Wecker um 06:30 Uhr klingelte. Melanie legte ihr Heft beiseite, in das sie schreiben musste, was sie in welchen Fächern gelernt hatte. Eine kindische Aufgabe, wie sie fand. Sie schaltete das Licht an, obwohl sie es nicht brauchte, und packte die Schulsachen zusammen, ein allerletztes Mal für eine lange Zeit. Dann ging sie duschen, um danach in ihre gewohnte Kleidung zu schlüpfen; eine schwarze, enge Jeans, ein gleichfarbiges T-Shirt und einen bequemen, ebenfalls dunklen Hoodie. Sie zog rasch ihren Gürtel mit den silbernen, spitzen Steinen durch die Gürtelschlaufen und streifte sich mehrere Lederarmbänder übers linke Handgelenk sowie ein Nietenarmband über das rechte. Dann stellte sie sich vor den Spiegel, um sich die pechschwarzen Haare zu bürsten. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, dass sie links in ihrem Haar eine circa zwei Zentimeter breite pinke Strähne hatte, die sich nicht färben ließ. Auch, dass Melanie pinke Augen hatte, verwirrte sie nicht länger. Dafür umrahmte sie ihre katzenartigen Augen mit einem dicken, schwarzen Eyelinerstrich und trug Wimperntusche auf. Die Lippen malte sie knallrot an, bloß ihre blasse Haut überschminkte sie nicht. Dann polterte sie, die Schultasche um die Schulter gehängt,